8.
Die Premiere war ziemlich langweilig. Bis die Besucher tatsächlich den Film ansehen konnten, verging eine Weile, denn es wurden unzählige Reden gehalten und der Film vorgestellt. Danach wurden weitere Reden gehalten und Danksagungen an jeden noch so unwichtigen Statisten erteilt, es war eine zähe und langwierige Angelegenheit.
Der Film jedoch entschädigte für die stundenlangen Torturen.
Jason McCarthy spielte eine der beiden Hauptrollen, und, entgegen meinen Erwartungen, spielte er sehr gut. Sein Vater stellte auch seinen Filmvater dar, und mir wurde klar, warum die Familie so bekannt war. Ich hatte ihn schon ihn mehreren Filmen gesehen, er war ein herausragender Schauspieler und sein Sohn war auf dem besten Weg dazu, einer zu werden, trotz der für sein Alter erstaunlich zahlreichen Allüren.
Nachdem der Film und die anschließenden weiteren Reden zu Ende waren, erhob ich mich und stand unschlüssig im Gang. Andere Gäste strömten an mir vorbei in verschiedenste Richtungen, sie lachten und schienen sich zu amüsieren. Ich überlegte, was ich tun sollte. Denn eigentlich hatte ich keine besonders große Lust, mit diesen unglaublich wichtigen Persönlichkeiten eine Aftershowparty zu besuchen. Den einen oder anderen Schauspielstar hatte ich entdeckt, sogar der Drummer von Tokio Hotel war an mir vorbeigelaufen, von einer Traube von Menschen umringt. Ich hatte irgendwo gelesen, dass die Band und die McCarthys befreundet waren.
Ich seufzte.
„Ähm“, räusperte sich eine junge Frau neben mir.
Ich wandte mich um.
„Entschuldigen Sie bitte, Sie sind doch...“, begann sie.
Nein, bin ich nicht, ich glaube nicht, dass Sie mich von irgendwoher kennen, grummelte ich in Gedanken.
„Sie sind doch Vera Buchner, der Ehrengast von Jason McCarthy, richtig?“
„Äh“, stammelte ich. Ehrengast? Was er komplett verrückt geworden?
„Wie schön. Er erwartet Sie bereits. Möchten Sie mich eventuell begleiten?“, fragte sie höflich und strahlte mich an.
„Ich wollte gerade ge... klar.“
Wir folgten dem Menschenstrom, sie ging neben mir und versuchte nur kurz, ein Gespräch mit mir anzufangen, dann ließ sie es bleiben. Sie war professionell, ohne Zweifel.
Wir betraten die Lounge im ersten Stock des Gebäudes, in der die Aftershowparty für den „kleinen Kreis“ stattfand.
Inmitten einer Menschentraube und umringt von Kameras stand Jason McCarthy, ich entdeckte seinen blonden Haarschopf. Und die freundliche Dame neben mir steuerte genau auf ihn zu.
Ich blieb stehen. „Äh, Sie könnten ihm doch einfach Bescheid geben, dass...“ Ich überlegte fieberhaft, „dass ich an der Bar bin und, äh, warte. Da drüben. Auf ihn.“ Ich deutete in eine etwas abgeschirmtere Ecke.
Sie begriff schnell und lächelte. „Natürlich, ich gebe ihm Bescheid. Einen schönen Abend noch.“ Sie lächelte mir noch einmal zu und wandte sich ab.
Ich verkrümelte mich unauffällig in die Ecke.
„Was darf es denn für Sie sein?“, fragte der Barkeeper. Auch er lächelte zurückhaltend. So gut geschultes Personal könnte ich für meine Partys gut gebrauchen.
„Einen doppelten Espresso“, sagte ich, ohne nachzudenken.
Er grinste und ließ unauffällig einen prüfenden Blick über mich wandern. Aber nicht unauffällig genug.
Nach gefühlten zwei Sekunden stand eine dampfende Tasse vor mir. Ich kippte zu viel Zucker hinein und seufzte.
„War es ein stressiger Tag heute für Sie?“, fragte der Barkeeper mitfühlend.
„So könnte man es nennen“, meinte ich.
„Sie sind nicht... eine von den Schauspielern, oder?“
„Nein. Wie kommen Sie darauf?“
Er lachte.
„Ich sehe es Ihnen an. Sie fühlen sich offensichtlich nicht wohl hier. Wegen der vielen Fotografen?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Normalerweise stehe ich auf Ihrer Seite.“
„Sie sind Barkeeperin?“ Er runzelte ungläubig die Stirn.
„Fast.“ Jetzt lächelte ich. „Ich bin Eventmanagerin. Ich heiße Vera Buchner.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich hab schon von Ihnen gehört. Hab auch mal für Ihren Chef gearbeitet. Seien sie froh, dass Sie heute Abend nicht die Organisatorin sind.“ Er stockte kurz und die Farbe wich aus seinem Gesicht. „Oder sind sie da etwa dabei?“
„Nein, nein“, wiegelte ich ab. „Ich bin sozusagen privat hier. Warum, läuft es nicht gut? Wer benimmt sich denn daneben?“
Er grinste über die kleine Indiskretion, die er sich nun erlaubte. Aber bei Brancheninternen war das meistens nicht ungern gesehen, über schwierige Kunden zu lästern. Natürlich durfte so etwas weder an die Öffentlichkeit, noch zum Kunden dringen.
„Die McCarthys haben schlechte Laune,weil nicht alles so läuft, wie sie es sich wünschen. Verzogene Bengel“, zischte er leise.
Er war mir ausgesprochen sympathisch.
Ich wollte gerade zu einem neuen Gesprächsversuch ansetzen, als er plötzlich in kühlerem Ton sagte: „Ich glaube, da ist jemand für Sie.“
Ich drehte mich um. Hinter mir stand Jason McCarthy und strahlte mich an. Er trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, er sah umwerfend aus.
„Hi“, sagte er und lächelte wieder. „Schön, dass du Zeit hattest. Dass du gekommen bist.“
„Ja“, antwortete ich knapp.
„Wie hat dir der Film gefallen?“
„Oh, er war... sehr eindrücklich. Er hat mir gefallen.“
„War er interessant?“ Er betonte das Wort so, wie ich es bei unserem Telefonat getan hatte. Ganz blöd war er also nicht.
Ich lachte. „Ich denke, er war mehr als interessant.“
„Dann ist ja gut.“
Eine kurze Pause entstand. Ich bemerkte, wie viele Leute uns anstarrten.
„Möchtest du dich vielleicht setzen?“, fragte ich, als ich bemerkte, dass er unschlüssig auf den Hocker neben mir sah.
„Klar“, sagte er und sprang beinahe erleichtert auf den Stuhl.
„Also, was möchtest du trinken?“, fragte er dann und blickte auf meine leere Tasse. Er betrachtete mich kurz, als würde er nachdenken.
„Ah, ich weiß“, meinte er grinsend und gab dem Barkeeper ein Zeichen. Der nickte. Wieder gefühlte zwei Sekunden später standen zwei Gläser Aperol Sprizz vor uns.
„Cheers“, meinte Jason, als er nach seinem Glas griff. Unsere Gläser klirrten leise aneinander.
„Woher wusstest du...?“, wollte ich wissen, er grinste. „Du hast es durchschaut? Nina.“
„Du hast dich ernsthaft mit Nina darüber unterhalten, was ich gerne trinke?“ Entgeistert sah ich ihn an.
„Nicht nur darüber“, antwortete er glucksend.
„Worüber noch?“
„Du feierst gerne Partys, gehst gerne Essen, liest viel und hast einen fetten Kater. Du bekommst schlechte Laune, wenn man dich zu früh anruft. Und du lebst alleine.“
Ich klappte den Mund auf und wieder zu.
„Verräterin“, zischte ich dann.
„Seid ihr gut befreundet? Du und Nina?“ Gespannt sah er mich an.
„Nicht besonders, ich kenne sie eben. Sie kommt gerne zu meinen Partys. Aber besonders viel haben wir nicht miteinander zu tun.“
„Sie ist ja auch viel jünger als du.“
Ich hob eine Augenbraue. „Und du bist auch viel jünger als ich.“ Er hatte sich von Nina gut informieren lassen.
„Na und? Solange ich größer bin...“ Er fixierte mich wieder mit seinem Blick. Er hatte helle, grüne Augen.
„Das bist du wohl“, stimmte ich zu.
Wir leerten gemeinsam noch zwei weitere Aperol Sprizz, unser Gespräch kam langsam in Gang. Er berichtete mir von dem Dreh des Film, er konnte gut erzählen, es machte Spaß, ihm zuzuhören. In seinem ausdrucksvollen Gesicht zeigte sich sein schauspielerisches Talent.
Ich erzählte ihm von meiner Arbeit und von meiner fetten Katze, er erklärte mir, dass er nicht mehr in die Schule ging, sondern einen Privatlehrer hatte. Und der begleitete ihn bei den Dreharbeiten. Immerhin lernte er noch was und versuchte, sein Abitur trotz seines Erfolgs zu machen.
Ich staunte trotzdem. Es kam mir so surreal vor. Ein Privatlehrer. Ich fragte mich, wie er wohl aussah.
„Oh, so ein bisschen wie der Lehrer Lempel aus Max und Moritz. Kennst du den?“
„Der ist dann aber schon ziemlich alt oder?“
„So alt, dass er noch fließend Lateinisch spricht.“
„Und dazu zwingt er dich auch?“ Ich musste bei der Vorstellung des Lehrer Lempel in einer weißen Toga lachen, Jason lachte mit.
Plötzlich, mitten im Lachen, stockte er. „Vera, ich hab total die Zeit vergessen. Ich glaube, Maggie ist schon ungeduldig.“
„Wer ist denn Maggie?“, fragte ich interessiert. Ich konnte es mir schon denken. Doch die Antwort überraschte mich.
„Meine Assistentin. Sie organisiert meine Sachen und sorgt dafür, dass ich mich so verhalte, dass es meine Agentin für richtig hält.“ Er lächelte, doch ich spürte, dass er es nicht besonders lustig fand.
Erst jetzt fiel mir die freundliche Dame von vorhin auf, die ein wenig entfernt von uns stand und Jason ein paar nachdrückliche Blicke zuwarf.
„Diesen Mittwoch fliege ich zu einem Dreh. Vielleicht können wir uns vorher treffen, also, wenn du willst...“ Er zögerte und blickte mich schüchtern an.
„Äh“, machte ich. Wie bitte?
„Super, dann können wir vielleicht zusammen essen gehen? Am Dienstag?“ Gespannt starrte er mich an.
Ich starrte entgeistert zurück. „Du willst mit mir Essen gehen?“
Er zuckte kurz, ich glaubte, ihn mit dieser Bemerkung verletzt zu haben, doch er ließ es sich nicht anmerken.
„Klar, wenn du das möchtest...“
Ich sagte nichts, lächelte aber.
„Also dann am Dienstag? Um Acht?“
Ich nickte. Er strahlte. Seine Augen glitzerten ein wenig. „Ich hole dich ab!“, rief er mir zu, dann sprang er auf und flitzte hinüber zu Maggie, die ihn böse anblitzte und auf ihn einredete. Er sah noch zu mir herüber, lächelte und hob die Hand.
Ich winkte zurück. Was war das denn gewesen?
Ich wollte gerade versonnen in mein fast leeres Glas schauen, als ich die Blicke bemerkte, die auf mir lagen. Ich wurde rot, und wütend, doch ich hob nicht den Kopf, sondern drehte mich zur Bar.
Ich hoffte, den Barkeeper von vorhin zu sehen, er lehnte lässig mir gegenüber an der Spüle und betrachtete mich interessiert.
Als wir uns eine Weile gegenseitig beobachtet hatten, sagte er ganz beiläufig: „Jason McCarthy hat sich noch nie so lange an einem Stück mit jemandem unterhalten. Wissen Sie, ich wusste nicht einmal, dass er überhaupt so Reden kann. So normal. Er hat sich ja richtig reizend benommen.“
Er war schlau, er hatte die Situation von vorne bis hinten richtig verstanden. Aber ich war noch nicht so schlau wie er.
„Was meinen Sie damit?“
„Ich kenne ihn natürlich nicht, aber ich habe ihn schon auf einigen Premieren hier erlebt. Er ist normalerweise distanzierter, viel distanzierter. Zurückhaltend, in sich gekehrt. Teilweise sogar mürrisch. So herzlich habe ich ihn noch nie erlebt.“
Verwirrt sah ich ihn an.
Nach einer Weile verließ ich die Party. Ich hatte das Gestarre nicht mehr ausgehalten. Da ich angetrunken war, ließ ich mein Auto stehen und stapfte durch den einsetzenden Nieselregen nach Hause. In meiner Wohnung angekommen, viel ich erschöpft und verwirrt ins Bett und träumte die absonderlichsten Dinge. Er war mir ein Rätsel.