16.

Der Weg ins Bett war hart, der am nächsten Morgen aus dem Bett heraus und ins Bad war noch viel schwerer.
Ich hatte fast schon damit gerechnet, dass Bettina anrufen würde, doch sie tat es nicht. Warum auch.
Ich ließ ein Bad einlaufen und überlegte kurz, ob ich mich ertränken sollte.
„Übersprungshandlung“, schoss es mir durch den Kopf, ich ließ mich seufzend in das warme Wasser gleiten.
Ich war etwas überfordert mit der Situation, ich musste dringend intensiv nachdenken.
Doch er ließ mich nicht.
Um kurz nach zwei klingelte das Telefon, Jason war dran.
„Guten Morgen, zehn Stunden Erholung müssen reichen“, begrüßte er mich fröhlich.
Ich stöhnte.
„Hm, geht’s dir gut?“, fragte er besorgt, doch Belustigung schwang ebenfalls in seiner Stimme.
„Klar“, sagte ich. „Wieso rufst du an?“ Die Krähe, die mich schon einmal besucht hatte, saß wieder auf meinem Kopf und traktierte mich mit ihrem Schnabel.
„Ich wollte fragen, wie es dir geht!“
„Ganz der Gentleman“, kommentierte ich.
„Genau“, bestätigte er.
„Gut.“
„Schön, dann hast du bestimmt nichts gegen einen Spaziergang heute Abend einzuwenden? Bevor ich fliege?“
„Jason, tut mir Leid, ich habe heute Abend einen Termin.“
„Oh.“
„Ja, es tut mir wirklich Leid. Heute Nachmittag ist eine Veranstaltung, die meine Firma betreut, ich muss da hin und mithelfen.“
„Schade.“
„Ja, ich weiß.“ Bedauern legte sich in meine Stimme.
„Na gut, also ich fliege heute Abend zurück nach London“, meinte er langsam. „Keine Ahnung, wann ich das nächste Mal da bin.“
„Wir können uns ja dann wieder treffen“, schlug ich vor.
„Ja, vielleicht...“ Im Hintergrund klingelte ein Telefon, zwei verschiedene Frauenstimmen redeten auf ihn ein.
„Vera, es tut mir leid, ich muss da schnell was regeln“, sagte er zerstreut.
„Jason? Ich wünsche dir viel Spaß beim Dreh nächste Woche“, beeilte ich mich, zu sagen.
„Danke, dir auch viel Erfolg in der Arbeit. Vera?“
„Ja?“
„Ich melde mich bei dir, in Ordnung?“
„Ja, klar. Gerne.“ Ich wusste nicht, warum ich so leise sprach. Ich flüsterte fast. Es fühlte sich nach Abschied an, nach einem Abschied für eine lange Zeit.
„Bis dann.“ Er hatte aufgelegt. Ich hielt das Telefon umklammert und lauschte auf das gleichmäßige Tuten. Ich wagte nicht, aufzulegen. Doch dann riss ich mich zusammen und warf das Telefon unsanft zurück auf die Ladestation.
Ich ließ mich auf mein Sofa fallen. Mein fetter Kater kam auf meinen Schoß gesprungen, ich ließ ihn und kraulte ihn gedankenversunken. Ich musste dringend mit Bettina sprechen. Oder mit irgendjemand, dem nicht vollständig der Kopf vernebelt war.

Nach zwei Aspirin und einem besonders sorgfältigen Makeup war ich gerüstet für die Veranstaltung. Und zum Glück hatte ich auch nicht besonders viel zu tun, außer Hände zu schütteln und lächelnd neben meinem Chef zu stehen. Die Hauptarbeit war bereits in der Woche davor erledigt worden. Bald war die Firmenpräsentation zu Ende und ich konnte nach Hause fahren.
Todmüde fiel ich am Abend um neun ins Bett und schlief trotz der Gedanken, die sich in meinem Kopf jagten, sofort ein.

Auch am nächsten Tag ließ Bettina auf sich warten. Dabei hätte ich ihr dieses Mal einiges zu erzählen gehabt.
Ungewohnt früh war ich auf den Beinen. Nach einem Tee und einer Dusche fuhr ich schon um acht ins Büro, irgendwie fühlte ich mich seltsam, und wusste nichts Rechtes anzufangen. Mein Chef war erstaunt, mich so früh anzutreffen, normalerweise erschien ich nie vor zehn Uhr und machte gerne Home-Office, doch es war ihm nur Recht. Dann konnte er früher gehen.
Lustlos sah ich die anstehenden Veranstaltungen durch, führte ein paar Telefonate. Ich war verwirrt vom Wochenende, meine Kollegin Linda ging mir zusätzlich mit ihren Problemen auf die Nerven. Sie und ihr Freund hatte ständig irgendwelche Missverständnisse und Komplikationen, ich frage mich, wie man das nur schaffen konnte. Immer wieder riet ich ihr, sich einfach mal mit ihm zu unterhalten, ihm zuzuhören und nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstand, bevor sie es in den falschen Hals bekam. Erfahrungsgemäß würde sie nicht einmal mir zuhören, geschweige denn, meine Ratschläge befolgen.
Der Tag war endlos, zäh. Um fünf hielt ich es nicht mehr aus und fuhr nach Hause. Ich setzte mich auf mein Sofa, mit meinem dicken Kater auf dem Schoß und kraulte ihn, während ich meinen Gedanken nachhing.
Sie drehten sich erstaunlicherweise nicht ausschließlich um Jason McCarthy, sondern auch um andere Prominente, mit denen ich während meiner Arbeit des öfteren zu tun gehabt hatte. Die FC Bayern-Spieler waren gute Kunden von uns, ebenso ihr Verein. Auch sie waren bekannt und es herrschte reges Interesse für sie, aber sie wurden nicht verfolgt. Auf den Veranstaltungen waren in der Regel nicht einmal Bodyguards anwesend, sondern ganz normale Securitys. Und schon gar nicht trugen sie Waffen wie bei der Premiere des Films von Jason.
Ich zögerte, dann holte ich mir mein Notebook aufs Sofa und beschloss, Jason ein wenig zu bestalken. Als ich seinen Namen einfach mal so in Google eingab, bekam ich schlappe 19 Millionen Sucheinträge, also systematisierte ich die Suche.
Er hatte eine Website, mit seiner Biografie, einer Auflistung alter und neuer Projekte und vielen netten Bildern von ihm. Sogar Filmtrailer hatten sie online gestellt, da hatte sich jemand mit der Gestaltung der Website Mühe gegeben. Ich fand schnell heraus, wer das gewesen war, Maggie Mearsheimer, seine Agentin. Sie hatte sich bemüht, eine seriöse Seite zu entwerfen, vermutlich im Hinblick auf Jasons Zukunft. Kein Klatsch, keine Werbung, edle Farben, sanftes Design. Sehr erwachsen, sehr künstlerisch. Die seines Bruders war poppiger, knalliger, und bunter.
Sein Wikipedia-Artikel war auch nicht besonders aufschlussreich, es stand so ziemlich das gleiche darin wie auf seiner Website. Allerdings fanden sich ein paar Spekulationen über sein Privatleben, dass er mit der Band Tokio Hotel befreundet war, dass es seit zwei Jahren nicht abreißende Gerüchte über eine Liaison mit der amerikanischen Schauspielerin Marie Alley gab, einer der Zwillinge. Und dort stand, dass Jason ein Apartment in London hatte, eines in Paris und eines in Los Angeles.
So weit er mir erzählt hatte, wohnte er jedoch die meiste Zeit bei seinen Eltern in Grünwald, überlegte ich.
Dann machte ich einen Ausflug auf die Seiten einschlägiger Klatschblätter.
Ihm wurde ungefähr alles nachgesagt, was man sich vorstellen konnte. Einiges war so völlig lächerlich, dass ich in schallendes Gelächter ausbrach. Klar, sie schrieben viel über Alkohol, Drogen und Affären, die er mit irgendwem angeblich gehabt hatte. Doch er hatte zudem mindestens zwei Kinder, eines davon war bei einer Voodoo-Zeremonie gezeugt worden, zudem war er schwul, bei dem Besuch eines Bordelles in Thailand abgelichtet worden und hatte seine Exfreundin wegen einem amerikanischen Topmodel verlassen, deren Namen ich noch nie gehört hatte. Außerdem mochte er Heavy Metal und verbrachte den ganzen Tag am liebsten im Pyjama im Bett.
Zumindest schrieben sie das. Er hatte wohl ein paar schlimme Unfälle gehabt, die er alle nur mit knapper Not überlebt hatte, und sein Elternhaus war völlig kaputt, worüber die Magazine detailliert informiert waren. Auch hier fanden sich haufenweise Gerüchte über eine Affäre mit Marie Alley, blöde Kuh, dachte ich mir.
Teilweise kamen mir einige Dinge in groben Zügen bekannt vor, allerdings nur wirklich ganz grob.
Viel schlimmer als die Klatschblätter jedoch waren die Internetseiten der Fans. Es gab unendlich viele von ihnen, jede versprach, das allerneuste vom neuen zu haben, die neusten Fotos, Interviews und Infos.
Teilweise wurde minutiös versucht, seinen Tagesablauf zu rekonstruieren, es war unheimlich. Oder die Bilder von ihm, teilweise verschwommen und unscharf, mit Datum, Uhrzeit und Ort versehen.
Jason beim Shoppen in New York. Bei einem Konzert von Tokio Hotel. Im Kino mit Nina, man konnte sie schlecht erkennen. Vor einem Club in Los Angeles, in einer Bar in London, in einem Restaurant in München. Sehr schlechte Bilder von seiner Geburtstagsparty, man konnte allerdings nur den dunklen Eingang der 089-Bar erkennen, mit Securitys davor. Das Bild war um fünf Uhr morgens geschossen worden.
Und unzählige Bilder von Dreharbeiten, von Premieren, Pressekonferenzen, Fotoshootings und anderen Veranstaltungen. Eine Seite hatte eine Galerie mit über achttausend Fotos.
Mir blieb das Lachen im Hals stecken.
Teilweise waren sehr schöne Aufnahmen dabei, beispielsweise von der letzten Filmpremiere in München. Er lächelte und posierte vor den Fotografen, er strahlte. Aber es waren auch andere dabei, auf denen er versteckt hinter einer Sonnenbrille und einem Kapuzenpulli, mit einer Zigarette im Mund und rechts und links zwei bulligen Typen, den Fotografen den Mittelfinger entgegenstreckte. Wie er aus Autos ausstieg oder sich in sie flüchtete, mit Kleidungsstücken über dem Kopf und unzähligen Securitys, die erfolglos versuchten, ihn abzuschirmen.
Bilder, wie er in Autos saß, offensichtlich fertig mit den Nerven. Und Bilder von einem Haus in der Bretagne in Frankreich. In einem zugehörigen Artikel stand, dass er sich das Haus gekauft hatte und versucht hatte, es als privaten Unterschlupf geheim zu halten, doch leider hatten Fans das schnell herausgefunden, hatten das Haus belagert und waren in den Garten eingedrungen. Es gab sogar Bilder von der Einrichtung, den Schlafzimmern, der Terrasse, dem Pool. Er hatte das Haus ein paar Wochen später wieder verkauft.

Er tat mir so unendlich leid. Ich hatte nicht ganz nachvollziehen können, was er gemeint hatte, als er mir ein wenig von den Paparazzi erzählt hatte. Im Nachhinein erschien es mir wie ein Wunder, dass wir bis auf die eine Kellnerin, und das war ja wirklich nicht dramatisch gewesen, keine Probleme gehabt hatten.
Allerdings waren alle Fans in den Foren einhellig der Meinung, dass er gerade ununterbrochen in England drehte und seine Freizeit mit abwechselnd einer der Zwillinge in seinem Apartment in Los Angeles verbrachte. Alle waren sich einig, dass er eine heiße Affäre mit einer der beiden blöden Blondinen hatte. Wilde Spekulationen wurden mit schlechten Fotos untermalt, die angeblich wilde Kussszenen und heimliche Knutschereien zeigten. Ich konnte darauf nur erkennen, dass er mit ihr herumalberte und auffällig oft ihre Handgelenke umklammerte, als würde er sie festhalten und von sich wegdrücken. Und ich hatte ihn schon viel strahlender Lächeln gesehen als auf den Bildern.
Es beruhigte mich ein wenig, dass wohl wirklich niemand etwas von seiner Anwesenheit hier ahnte.

Irgendwann hatte ich genug davon, es kam mir so gemein vor und hinterhältig, Informationen von solchen Seiten zu lesen, die ihm teilweise das Leben zur Hölle machten. Ich kam mir schäbig vor, ich hätte ihn besser selbst darüber ausfragen sollen. Aber ich konnte nun besser nachvollziehen, warum er eine solche Panik davor hatte, erkannt zu werden.
Ich machte mir ein Steak und Kartoffeln, es war nicht einmal Medium durchgebraten. Mein innerer Seelenfrieden war empfindlich gestört worden, ich hatte Lust auf ein blutiges Fleisch. Grinsend musste ich an Linda denken, die sich beklagte, dass ihr Freund nie ihre Salate mit angerösteten Körnern essen mochte, sondern lieber große, rohe Steaks. Mit ihm würde ich mich wahrscheinlich bestens verstehen.

Ich wurde wieder viel zu früh müde und viel um halb zehn ins Bett. Der fette Kater legte sich quer über mein Gesicht, ich schrecke aus dem Schlaf und warf ihn aus dem Bett, eine halbe Minute später stand er wieder maunzend auf meinem Brustkorb und beschwerte sich laut klagend über meine mangelnde Zuneigung.
Ich drückte mir ein Kissen auf die Ohren, es half zumindest so weit, dass ich einigermaßen schlafen konnte.


16. Kapitel kommentieren