15.

Als wir am Eingang standen, warf er einen kurzen Blick auf die Karte, dann öffnete er mir die Tür und ließ mich eintreten. Zielstrebig ging er auf einen Tisch möglichst weit von den Fenstern entfernt zu und rückte mir einen Stuhl zurecht, dann setzte er sich. Eine kleine, junge Kellnerin schwebte zu uns. Als sie direkt an unserem Tisch stand und Jason ansah, klappte ihr Kiefer herunter. Zuerst starrte sie ihn bewegunslos an, dann ließ sie ihren Blick über ihn wandern und anschließend über mich. Sie wirkte nervös und sah uns erwartungsvoll an.
Ich wurde nervös, Jasons Miene verdüsterte sich.
„Bist du nicht... Jason McCarthy, der Schaupsieler?“, platzte es aus ihr heraus. Begierig starrte sie ihn an.
Ich dachte, ich müsste mich auf sie stürzen und ihr den Hals umdrehen.
Sein Gesicht wurde aschfahl. „Äh, keine Ahnung. Bestell du doch was für uns“, meinte er schnell und sprang auf. „Ich... komme gleich wieder.“ Dann verschwand er nach draußen.
„Entschuldigung“, murmelte die Kellnerin betroffen.
„Moment bitte“, sagte ich und stand ebenfalls auf.
Ich folgte Jason nach draußen. Er stand im Hinterhof des Restaurants, an eine Mauer gelehnt, und rauchte. Es war das zweite Mal, dass ich ihn rauchen sah.
„Sollen wir woanders hin gehen?“, fragte ich zögerlich, als ich neben ihn trat.
„Nein, das ist schon in Ordnung. Ich fühle mich nur immer so, wie... die Affen im Zoo, vorhin. Ungefähr so.“
„Jason, wir können auch einfach eine Pizza irgendwo bestellen... oder sowas. Oder in ein Restaurant gehen, das du kennst, wo du weißt, wie die Leute auf dich reagieren.“ Hilflos sah ich ihn an, versuchte, in seinen Augen zu lesen. Doch er war weit weg und starrte durch mich hindurch ins Leere.
„Nein, es ist okay. Los, gehen wir wieder rein.“
Er warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus, während ich bewegungslos auf ihn wartete. Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter, als er wieder das Restaurant betrat.
Die gute Stimmung von vorhin war restlos verflogen.
Er entschuldigte sich kurz und ging zur Toilette, während er mich bestellen ließ. Ich nahm an, er würde wiederkommen, sobald die Kellnerin verschwunden war.
Ich wählte einen leichten Aperitif, irgendwie war mir danach. Dann stellte ich ein kleines Menü zusammen, mit jeweils möglichst verschiedenen Gerichten, damit wir eventuell tauschen konnten, falls er etwas nicht mochte. Als ich die Kellnerin nach einer Weinkarte fragte, brachte ich sie damit kurz aus dem Konzept, doch dann meinte sie schnell, sie würde den Kollegen schicken. Genau das war Zweck der Aktion gewesen.
Ich hatte mich sehr geärgert über die offensive Art und als der Kollege kam, gab ich ihm dies deutlich zu verstehen. Außerdem versuchte ich, ihm klar zu machen, dass niemand in dieser Stadt, vor allem kein Journalist, etwas davon erfahren sollte, wer hier gewesen war. Und dass er das seiner Kollegin einschärfen sollte, unbedingt.
Er entschuldigte sich etliche Male und bedauerte den Vorfall sehr. Und er würde den Service für unseren Tisch übernehmen, genau das war mein Ziel gewesen. Er versprach, für Ruhe zu sorgen und versicherte mir, dass wir hier einen ungestörten Abend verbringen konnten.
Erleichtert bestellte ich einen der Weine, die er aufzählte, denn sie hatten keine Weinkarte. Dann verschwand er.
Jason kam zurück und setzte sich.
„Was hast du denn mit dem gemacht? Der hat ja ausgesehen, wie ein getretener Hund“, sagte er leise.
„Ich habe ihm klar gemacht, dass kein Mensch auf diesem Planeten erfahren soll, dass du hier warst. Oh, und er wird uns für den Rest des Abends bedienen.“ Ich beobachtete seine Reaktion.
Er schien erleichtert zu sein. „Kann man dich anstellen, oder so was? Vielen Dank, das könnte mir einigen Ärger ersparen.“ Er lächelte.
Er lächelte wieder!
Der Aperitif kam, er hielt das für eine gute Idee.

Nach und nach entspannte sich Jason. Das Essen war sehr gut, der Service dezent und unauffällig. Ich überlegte, mir die Visitenkarte zu holen und das Restaurant in meine Kartei aufzunehmen. Nur am Personal mussten sie noch arbeiten.
Wir hatten gerade beide ein Zitronensorbet genossen, er auf Obst, ich auf frischen Kräutern. Die Stimmung war beschwingt, wir hatten nach dem Aperitif eine Flasche Wein geleert.
„Vera, sag mal, was machen wir jetzt?“, fragte er und strich mit seinem Zeigefinger den Rand des Weinglases entlang.
Er sah so unglaublich gut aus, fiel mir einmal mehr auf.
„Wie meinst du das?“ Ich verstand nicht ganz genau, worauf er hinaus wollte.
„Naja, der Abend ist noch jung, und ich möchte ehrlich gesagt noch ein wenig Zeit mit dir verbringen“, er blitzte mich schelmisch an.
„Was hast du denn vor?“
„Wir könnten in die Innenstadt fahren und uns in der Bar vom Bayerischen Hof betrinken?“, schlug er vor.
„Uh“, sagte ich und verzog das Gesicht. Aber irgendwie war ich in genau der Stimmung.
„Gut dann los geht’s. Ich wollte da immer schon mal hin, seit sich mein Bruder dort daneben benommen hat. Das Bild wieder zurecht rücken...“ Er schmunzelte.
„Dein Bruder hat sich dort daneben benommen? Und da willst du allen Ernstes mit mir hingehen?“ Entsetzt sah ich ihn an.
„Klar, warum nicht?“
„Okay, aber vorher fahren wir zu mir nach Hause und...“
„Jaaa? Und was?“, unterbrach er mich. Er hatte sich weit über den Tisch gelehnt und lächelte abwartend.
Einen Moment starrte ich ihn perplex an, dann musste ich lachen.
„Na, ich ziehe mich um. So kann ich unmöglich im Bayerischen Hof aufkreuzen.“
„Wieso denn, ich finde, du siehst fantastisch aus.“
Ich lachte wieder. „Aber es geht nicht darum, wie ich aussehe, sondern darum, was ich anhabe.“
„Klar. Und was mache ich?“
Er trug dunkle Jeans, einen hellblaues Hemd und darüber einen leichten, weißen Pullover.
„Äh, passt so? Du kannst ja den Pulli ausziehen.“
„Ha ha.“ Er seufzte. „Frauen haben es in solchen Sachen leichter und schwerer.“
„Warum das?“, fragte ich interessiert.
„Na ja, leichter, weil sie sowieso immer gut aussehen. Auch morgens nach dem Aufwachen und unter der Dusche und so. Und schwerer, weil sie so viele Möglichkeiten haben, sich zu kleiden. Bei Männern ist das viel einfacher. Mit dunkler Hose und Hemd liegt man fast immer richtig.“
„Aha.“ Worüber er sich Gedanken machte.
„Gut, dann können wir los? Ich lasse uns ein Taxi rufen.“
„Ach ja, du fährst ja nicht mit der U-Bahn“, neckte ich ihn und stand auf. „Ich komm gleich wieder, ich muss kurz wohin.“
Und ich wollte unauffällig bezahlen und ihm zuvorkommen.
Ich trat an den Tresen, wo Jason mich nicht mehr sehen konnte. Der Kellner kam sofort.
„Können Sie mir schnell die Rechnung fertig machen, während ich mich kurz frisch mache? Und geben Sie sie ja nicht dem Herrn da drüben“, sagte ich leise.
Der Kellner sah mich etwas unbehaglich an. „Ich fürchte, der Herr war schneller als Sie. Er hat mir vorhin eine Kreditkarte gegeben und mir eingeschärft, Sie auf keinen Fall bezahlen zu lassen.“
„Urgh“, machte ich.
Er zog entschuldigend die Augenbrauen hoch und lächelte mich an.
Ich verzog mich auf die Toilette und überlegte mir, wie ich Jason am besten zur Schnecke machen konnte.

Als ich an den Tisch kam, grinste er mich frech an, während ich mich bemühte, ihn böse anzufunkeln.
„Kreditkarte?“, zischte ich. Er legte seine Serviette bedacht auf den Tisch und erhob sich langsam.
„Ja“, sagte er dann und lächelte. „Was dachtest du denn?“
„Jason, das ist mir nicht recht, dass du...“
Er schnitt mir das Wort ab. „Vera, ich kriege für den blöden Actionfilm, den ich gerade mache, acht Millionen Dollar Gage. Das ist völliger Schwachsinn, mit dir über sowas zu diskutieren. Zeitverschwendung.“ Er sah mich an.
Ich starrte schockiert in sein offenes Gesicht.
„Acht Millionen Dollar?“
„Und das nur für einen schlechten Actionfilm. Ich hab noch ein paar mehr Filme gedreht.“
Ich konnte nicht genau beschreiben, warum ich so entsetzt war. Vielleicht, weil er mit einem Film so viel verdiente wie meine komplette Familie in wahrscheinlich ein paar Jahrhunderten? Weil er eigentlich sein Leben lang nicht mehr zu arbeiten brauchte? Weil man mit dieser Summe unendlich vielen Hartz-Vier-Empfängerkindern eine erstklassige Ausbildung finanzieren konnte?
„Denk gar nicht darüber nach, sonst wird man verrückt“, sagte er leise. „Aber über dieses Thema will ich nichts mehr hören, bitte? Lass mich das machen, ich kann dich nicht auch noch dafür bezahlen lassen, dass du mir deine Zeit opferst.“
„Ich opfere dir nicht meine Zeit, ich schenke sie dir“, antwortete ich verwirrt.
„Wie schön.“ Er strahlte mich wieder an, das helle Grün glitzerte wie zwei Smaragde.
„Mister McCarthy, das Taxi wäre da..“ Der Kellner hatte sich von hinten leise genähert.
Jason nickte und bot mir seinen Arm an. Ich hakte mich unter und wir verließen das Restaurant.
„Warum hat er Mister McCarthy gesagt?“, fragte ich ihn, als wir vor der Tür standen.
Er zuckte mit den Schultern. „Das machen viele. Ich denke mal, weil es ein englischer Name ist und meine Familie aus Großbritannien kommt und so...“
Er hielt mir die Tür auf. „Bist du dann eigentlich deutscher Staatsbürger?“, wollte ich interessiert wissen.
„Ja. Aber zweisprachig aufgewachsen.“ Er war auf der anderen Seite eingestiegen. „Native Speaker, sozusagen.“
Ich liebte es jetzt schon, wenn er Englisch sprach.
Er nannte dem Fahrer meine Adresse. Ich zischte empört darüber, dass er so gut informiert war.
„Ach du. Lass mir doch das Vergnügen“, meinte er lächelnd und einen Moment lang schien es, als wollte er meine Hand berühren, die ruhig neben meinem Sitz lag. Doch er zog seine Hand schnell wieder zurück.
Nach zehn Minuten hielten wir eine Straße vor meiner Haustür. Er bezahlte das Taxi und wir stiegen aus.
„Grundregel Nummer Eins unter Superstars: Unter Leuten immer die Sonnenbrille aufsetzen. Grundregel Nummer Zwei: Bei der Benutzung von fremden Taxis so oft wie möglich den Fahrer wechseln, und die Fahrer auf keinen Fall irgendwo warten lassen. Sonst haben sie in aller Ruhe Zeit, jemanden von den Fotografen anzurufen.“ „Ja“, sagte ich langsam, wir hatten die Tür erreicht, ich schloss auf. Wir gingen dicht nebeneinander das dunkle Treppenhaus hinauf. Ich wohnte im fünften Stock, man hatte einen schönen Blick von dort oben, aber es gab keinen Aufzug.
In meiner Wohnung machte ich Licht, es blendete mich einen kurzen Moment lang.
„Willst du dich setzen?“, fragte ich und wies mit der Hand auf mein Sofa.
„Gerne“, meinte Jason und ließ sich dort nieder. Er zog sein Handy aus der Hosentasche. „Ich rufe noch schnell ein anderes Taxi“, erklärte er.
Ich nickte und verschwand im Schlafzimmer, ließ aber die Tür offen, damit er sich nicht allzu alleine fühlte, falls ich in meinem Kleiderschrank verschwand und länger als zehn Minuten brauchte.
Im Inneren meines kleinen Ankleideraumes zog ich grübelnd ein paar Kleider heraus, fand aber nicht gleich etwas, das mir passend erschien.
Jason war aufgestanden und ging im Wohnzimmer auf und ab, ich vermutete, dass er sich die Bücher und CDs ansah.
Ich entschied mich für eine enge, dunkelblaue Jeans und eine schwarze Satinbluse, dazu schwarze Pumps.
Ich hatte gerade nur Unterwäsche an, als ich Jason im Türrahmen meines Schlafzimmers hörte.
„Vera?“, fragte er.
„Ja?“, fragte ich zurück und schlüpfte schnell in die Hose. Glücklicherweise war der weiße Vorhang zugezogen, und das Schlafzimmer dahinter dunkel.
„Ich hol mir mal ein Glas Wasser?“, fragte er vorsichtig.
„Klar“, rief ich und zog die Bluse an. Nachdem ich sie zugeknöpft hatte, zog ich den Vorhang zurück und löschte das Licht im Ankleidezimmer.
Jason stand unbeweglich im Türrahmen und betrachtete mich unergründlich.
„Äh, alles klar?“, wollte ich wissen.
Er nickte und lächelte.
„Ich geh noch kurz ins Bad, die Gläser sind in der Küche über der Spüle“, meinte ich, er nickte wieder. Irgendwie war er komisch.
Ich schob die Beobachtung beiseite und ging ins Bad. Ich steckte meine Haare mit ein paar Nadeln zu einem Dutt und zog einen dunklen Lidstrich. Schnell packte ich meinen roten Lippenstift ein, den ich auch schon auf seiner Geburtstagsparty getragen hatte und griff nach meinem Lieblingsparfüm.
Dann trat ich in den Flur.
„Fertig“, meinte ich.
„Hübsch“, antwortete er und ließ seinen Blick über mich wandern.
„Hat dir noch niemand gesagt, dass es unhöflich ist, Leute so anzustarren?“
„Fangen wir damit wieder an?“
Ich lächelte. Er leerte das Glas und stellte es behutsam in die Spüle.
„Gehen wir?“, fragte ich.
„Der Taxifahrer läutet.“, erwiderte er.
„Ach so.“ In diesem Moment klingelte es an der Tür.
„Na bitte.“ Er sprang zur Tür und öffnete sie, ich ging hindurch und schloss sie hinter ihm ab.
Wir waren ein paar Stufen hinabgegangen, als er stehen blieb und sich zu mir drehte.
„Vera? Du bist wunderschön, wollte ich dir nur noch sagen.“
Ich brachte kein Wort heraus und starrte ihm nur in seine Augen.
Er lächelte sanft, drehte sich um und stieg weiter die Stufen hinab.
Unten wartete das Taxi, der Fahrer war kurz angebunden und fragte nur, wohin es gehen sollte. Er beachtete uns kaum.
Wir hielten vor dem Hotel. Es war beleuchtet, ein Livree kam mit schnellen Schritten und öffnete meine Tür, während Jason wieder bezahlte. Ich sagte nichts, die acht Millionen Dollar, für einen blöden Actionfilm, hatten mich doch etwas schockiert.
Ich stieg aus und wartete, der Livree sagte „Guten Abend“, ging um das Auto herum und öffnete Jasons Tür. Der stieg ebenfalls aus und trat zu mir.
„Du weißt, wo es hingeht?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Der Herr wird uns bestimmt helfen.“ Er lächelte ihn offensiv an, und ich war mir sicher, dass der Livree ihn erkannte, es sich aber nicht anmerken ließ.
„Aber gerne, womit kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Wir würden gerne in die Night Club Bar“, erklärte Jason.
„Ich zeige Ihnen gerne den Weg, Herr McCarthy, bitte, hier lang“, sagte er höflich.
Jason grinste mich an und sagte leise: „Siehst du, mein Bruder muss sich wirklich daneben benommen haben.“
„Oder er liest einfach nur Zeitung“, bemerkte ich trocken.
„Hm“, kommentierte Jason.
Wir gingen in das Hotel, ein Kellner in schwarzem Anzug führte uns zu einem kleinen Tisch.
Ich ließ mich in einen dunkelbrauen Ledersitz fallen, Jason nahm gegenüber Platz. Man reichte uns die Karte. Mit der Auswahl war ich ein wenig überfordert.
„Mister McCarthy, die Weinkarte?“, fragte der Kellner vorsichtig.
„Nein, nein, wir werden Cocktails wählen“, sagte er. Der Kellner nickte und verzog sich.
„Das musst du mir erklären. Dein Bruder hat sich daneben benommen? Was bedeutet das?“ Ich sah ihn fragend an. Er zog die Augenbrauen hoch.
„Nun, mein Bruder feiert hier des Öfteren, weil es so abgeschirmt ist. Er hatte mal was mit einer der Zwillinge, du weißt schon, von der Party. Deswegen war er öfter hier, denn die steigt hier immer ab, wenn sie in München ist. Jedenfalls, die haben hier schon ein paar Mal ordentlich gefeiert und dabei die eine oder andere Flasche Alkohol konsumiert. Dann hat er sich mit einem Verehrer der Zwillinge angelegt und eine Schlägerei angezettelt. Hier drin.“
„Waaas?“, entfuhr es mir. Entgeistert starrte ich ihn an.
„Es ist einiges zu Bruch gegangen. Die Polizei war da, es gab einen Riesenskandal, Presse, alles. Und darauf stehen die hier überhaupt nicht.“ Jason hatte seine Karte weggelegt.
„Er hat sich mit einem Typen wegen einer dieser Gören geprügelt? Aber, warum?“
„So halt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, es ist völlig bescheuert, er macht öfter solche Dinge. Naja, solange er die Rechnung über achtzigtausend Euro Sachschaden bezahlt...“
„Um Gottes Willen!“
„Er hat sich daneben benommen, sag ich doch. Die Fliesen in der Damentoilette sind ziemlich teuer. Und die erlesenen Liköre hinter der Bar auch.“
Dezente Musik beschallte uns. Es war noch recht leer, es war auch erst halb elf.
Der Kellner trat wieder an unseren Tisch.
„Was möchtest du trinken?“, fragte Jason.
Ich warf einen unschlüssigen Blick auf die Karte und bestellte das, wo ich beim Lesen vorhin stehen geblieben war. „Moulin Rouge.“
Er nickte und lächelte. „Flyin'“, meinte er.
Der Kellner verschwand, Jason lehnte sich zu mir und betrachtete mich wieder.

Ich hätte es wissen müssen. Der Abend wurde lang und äußerst feucht-fröhlich. Jason schien enorm viel zu vertragen, im Gegensatz zu mir, was erstaunlich war, denn eigentlich war ich schon aufgrund meines Berufs trainiert.
Ich probierte mich quer durch die Karte, während Jason bei dem Flyin-Cocktail blieb. Als ich ihn bereits zu vorgerückter Stunde fragte, weshalb, meinte er, es passe zu seiner momentanen Stimmung. „Feels like flying“, sagte er in schönstem Englisch. Musik in meinen Ohren.
Als der DJ „Don't Stop The Music“ von Jamie Cullum spielte, fragte er mich, ob ich mit ihm tanzen würde. Ich stimmte lachend zu.
Er konnte Blues tanzen, ich war erstaunt. Er hielt mich fest in seinen Armen und sah mir ununterbrochen in die Augen. Es war so leicht, sich in sie fallen zu lassen, viel zu leicht. Sie strahlten intensiv, manchmal funkelten sie. Er zog mich ab und zu näher an sich heran, doch kurz bevor ich zu nah war, drehte er mich und vergrößerte damit den Abstand wieder, das Spiel begann von vorne.
Nachdem das Lied zu Ende war, vernahm ich mir wohl bekannte Takte. „Cry Me A River?“, entfuhr es mir erstaunt.
„Julie London“, er lächelte mich an. „Hab ich mir vorhin gewünscht, nur für uns. Als du kurz weg warst.“
Als ich peinlich zur Toilette stolperte. Genau.
Er löste die ohnehin sehr enge Tanzhaltung auf und zog mich ganz nah zu sich.
Eng umschlungen tanzten wir Blues, ich ließ meinen Kopf an seine Schulter lehnen.
Ich war ziemlich angetrunken und hatte mich dadurch nicht mehr ganz im Griff. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum ich ihn widerspruchslos gewähren ließ. Denn mir war bewusst, wer er war, mir klang in den Ohren, was Andrew gesagt hatte. Er konnte jede Frau auf der Welt haben, er mochte mich nur, wir waren vielleicht Freunde, nicht mehr. Es tat mir nicht gut, ihm ständig so nah zu sein, denn eine kleine Stimme in meinem Kopf schrie ab und an, wie sehr ich ihn mochte und ich war mir nicht sicher, ob das hier gut für mich war. Vermutlich würde ich die folgenden Nächte schlaflos in meinem Bett liegen und mich genau an diese Stunden erinnern. Mir Hoffnungen machen. Hoffnungen über etwas, was völlig abwegig war.
Ich spürte seine Lippen an meinem Haar.
Julie London wurde leiser, ich hob meinen Kopf. Er lächelte versonnen und strich mir eine Strähne aus der Stirn.
„Lass uns wieder hinsetzen“, murmelte ich.
„Wie du möchtest“, antwortete er und führte mich zurück zu unserem Tisch.

Als die Bar um drei Uhr schloss und man uns um halb vier endgültig fast schon hinauswarf , stolperten wir zu den Taxis am Eingang. Ich hing an Jasons Arm, ich hatte zu viel getrunken. Seine Augen waren inzwischen wieder leicht gerötet und er war höchst amüsiert über meinen Zustand.
Wir ließen uns auf die Rückbank fallen. „Dir ist schon klar, dass ich dich damit die nächsten Wochen aufziehen werde“, stichelte er.
„Du Schuft, hat dir noch nie jemand gesagt, dass es unhöflich ist, unschuldige Damen abzufüllen?“, erwiderte ich.
Er lächelte und rutschte neben mich.
„Ich musste dich gar nicht abfüllen, das hast du schon selbst zu verantworten“, meinte er leise und legte seinen Arm um meine Schultern.
In meinem Brustkorb tanzten kleine Kolibris.
„Das sagen sie alle“, gab ich trocken zurück.
„Alle? Ich hoffe, ich falle aus der Reihe.“
Das konnte ich nur bestätigen. „In der Tat, das tust du. Außerordentlich, der junge Mann. Ganz im Gegensatz zu mir.“
„Wie genau darf ich das verstehen?“, fragte Jason aufmerksam. Seine Augen studierten sorgfältig mein Gesicht.
„Na, ich bin nicht besonders außergewöhnlich. Andrew meinte, auf deiner Party, dass jede Frau in dem Club hinter dir her wäre. Und ich glaube, nicht mal Paris Hilton würde dich aus ihrem Schlafzimmer werfen.“
„Ich würde keinen Fuß in das Schlafzimmer von Paris Hilton setzen“, sagte er leise. „Ich würde nicht mal in die Nähe kommen wollen.“ Er hielt kurz inne.
„Ganz im Gegensatz zu deinem... Da war ich heute schon drin.“ Er lächelte.
Vor meinen Augen wurde es ein wenig schummrig.
„Jason, du kannst glaube ich jede Frau im Umkreis von tausendmillionen Kilometern haben...“
Er richtete sich in seinem Sitz auf und starrte mich an.
„Ich will aber keine von denen in meinem Umkreis. Ich weiß nur, dass die eine, an der mir wirklich etwas liegt, mich bisher noch nicht auf ihre Bettkante eingeladen hat. Aber ich kann ziemlich gut warten.“
Ich verstand nur Bahnhof, wir waren gleich vor meiner Haustür, ich wusste nicht so genau, was ich sagen sollte. Oder was mein Gehirn gerade machte, es hatte sich verabschiedete und feierte eine wilde Party angesichts seiner letzten Sätze.
Wir hielten wieder vor der Tür, das zweite Mal an diesem Tag.
Der Fahrer öffnete mir die Autotür, Jason brachte mich bis hinauf zu meiner Wohnung.
Ich schloss ungeschickt auf und schlüpfte aus meinen Schuhen.
Jason wünschte mir eine gute Nacht, umarmte mich und küsste mich ganz leicht auf beide Wangen.
Ich musste mich von ihm losreißen und klammerte mich an die Türklinke.
Er stieg die Stufen hinab. Am letzten Absatz des Stockwerks drehte sich noch einmal um und sah zu mir hoch.
„Vera?“
„Hm?“ Ich stand unsicher im Türrahmen.
„Mit den letzten Sätzen... warst du gemeint“, sagte er schlicht, lächelte und verschwand dann langsam die Stufen hinunter.
Ich schloss die Tür und drückte meine Stirn gegen das kalte Holz.
Mein Herz raste.


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