Oktoberfest-Besucher und Zugfahrten

Ich bin wieder aus dem Urlaub zurück. Das sind die guten Nachrichten. Die schlechten: Das Oktoberfest in meiner wunderbaren Heimatstadt hat begonnen. Obwohl ich mir immer größte Mühe gebe, in diesen zwei Wochen im Jahr mich nicht in der Nähe der Theresienwiese aufzuhalten, schaffe ich es doch jedes Mal, irgendwelchen Wiesnbesuchern über den Weg zu laufen. Nun ja.

Wobei das heute gar nicht schlimm war, nur eben wieder ein Beweis dafür, dass man dem Wahnsinn nicht entgehen kann. Denn die Caro hatte heute ihren quasi letzten anständigen Urlaubstag und ist vom Land mit dem Zug in die Stadt gegondelt. Aus dem schönsten Kaff Oberbayerns in die Landeshauptstadt. Ich stehe also am Bahnhof einer 800-Seelen-Gemeinde im malerischen Tiefbayern, und mir nähern sich zwei junge Damen in quietschebunten Dirndln. Mir war recht schnell klar, dass die beiden nicht zu irgendeinem Volksfest unterwegs sind, sondern zum Oktoberfest. Woran das mein messerscharf kombinierender Verstand bemerkt hat? Die Dirndln der beiden waren klassische Wiesn-Dirndln: zu bunt, zu kurz, zu eng, zu knapp, zu viel Glitzer. Eben genau so wie die greisligen, hochmodernen vom Angermaier. Öhöm. Zwar noch keine richtigen Schlampen-Drindl, aber alles andere als traditionell. Was man jungen Damen vom Lande aber durchaus zutrauen würde.

Nun denn, wie sich herausstellte, waren die beiden 16 Jahre alt und mit der Situation ein wenig überfordert. Sie waren außerdem sehr froh, dass ich ihnen nicht nur den Weg (mit dreimaligem Umsteigen in verschiedenen Käffern, also durchaus nicht unkompliziert) erklären konnte, sondern auch noch hinzufügte, ich würde auch nach München fahren und sogar an der U-Bahn-Station Theresienwiese vorbeikommen.
Ich steige also in den Zug, die beiden, die eine dunkelblond und leicht tussi, die andere schwarzhaarig und leicht tussi, aber beide durchaus sehr nett, auch. Ich glaube, ich war mit 16 auch so. So geschminkt und so immer lachend und albern und unschuldig-dämlich in Männerangelegenheiten und so. Es war auf jeden Fall amüsant.

Und während wir da so sitzen und fahren, kommt irgendwann der Kontrolleur. Er knackselt unsere Tickets ab und beanstandet das eines jungen Mannes in unserer Nähe. Er hatte ein löchriges, ziemlich fertiges T-Shirt an und eine löchrige, noch fertigere, über den Knien abgeschnittene Jeans, auf die mit Kugelschreiber allerhand gekritzelt war, unter anderem eingekringelte As. Aha. Anarcho-Fraktion also. Der punkige, aber leider kaum farbenfrohe Haarschnitt passt dazu.
Es stellt sich heraus, dass er auch aufs Oktoberfest will, weil er dort in einem Fahrgeschäft arbeiten soll. Da sein Chef sein Ticket gekauft hat, hatte der junge Mann die entsprechende Bahncard nicht dabei und muss den Aufschlag bezahlen. Alles kein Ding. Aber, es stellt sich weiterhin heraus, dass er ebenso wenig Plan hat, wie er dahin kommt, wie die beiden jungen Damen. Und dass er aus Berlin kommt. Er spricht aber nettes Bayrisch… Was macht ein aus Berlin stammender Anarcho, der aufs Oktoberfest will, in der tiefsten bayerischen Provinz?!

Na egal, er ist froh, dass ich den Weg kenne und fragt mich, ob er sich unauffällig an meine Fersen heften darf. Er darf.
Wir steigen um, die Mädchen, vor lauter Angst, sie könnten den Anschlusszug verpassen, rennen los. Ich will ihnen noch hinterherrufen, dass der Anschlusszug sowieso wartet und man sechs Minuten Umsteigezeit hat, lasse es aber. Ich bin schließlich nicht Obermutti, ne?
Die Anarcho-Fraktion folgt mir unauffällig, wir nehmen im nächsten Zug Platz. Sie ratschen über Jungs, ich lese und höre — mit halbem Ohr versteht sich — zu. Anarcho telefoniert, es scheint ein wenig turbulent zuzugehen bei ihm. Wir steigen wieder um. Vorher müssen die beiden jungen Damen noch ein weiteres Ticket kaufen. Ich erkläre ihnen drei Mal, wo, wie und welches Ticket. Nach ein paar Minuten kommen sie wieder, mit einem, viel zu teuren Ticket. Das sie es abstempeln müssen, ist ihnen nicht bewusst. Sie sagen, nachdem beim zweiten Versuch für ein weiteres Ticket als Preis 129 Euro angezeigt wurde, hätten sie es aufgegeben. Nun denn.

Am Ostbahnhof steigen wir aus. Als ich ihnen erzähle, dass dieser Bahnhof nach dem Hauptbahnhof der zweitgrößte in München ist, sieht mich die Dunkelblonde aus ihren Kornblumen-Blauaugen hilflos an. (Merkt ihr den schlechten Einfluss meiner TKKG-Kindheit?)
Ich nicke und verspreche, sie sicher zur Theresienweise zu bringen. Anarcho ist ebenfalls sehr dankbar. Dieses Mal übernehme ich es, den dreien die richtigen MVV-Tickets auszusuchen, und erläutere das lustige Ticket-Stempel-Spiel. Wir schaffen es, alle vier, und nehmen in der U-Bahn Platz. Die Anarchofraktion ist komplett fasziniert von der schier unglaublichen Geschwindigkeit der U-Bahn, die jungen Damen sehen sich mit großen Augen um. Noch größer werden die Augen am Odeonsplatz, noch viel größer am Stacchus und immens groß am Hauptbahnhof. Da, wo die Menschenmassen einsteigen.
Die drei fragen außerdem nach jeder Station, wenn wir wieder anfahren: „Wie lange noch? Müssen wir bei der nächsten raus?“ Ich antworte immer brav: „Nein, noch 3, noch 2, noch eine Station…“ An der Theresienwiese große Kulleraugen: „Müssen wir jetzt raus?“ — Caro: „Ja, jetzt müssen wir raus.“

Ich zeige ihnen die großen, gelben, nicht zu übersehenden Pfeile auf den Anzeigetafeln und die weiß-blauen Aufkleber mit der „Zum Oktoberfest“-Aufschrift und dem Pfeil darunter. Die Dunkelblonde sagt, dass sie das niemals gefunden hätten. Ich sage, noch die Rolltreppe rauf und dann durch den Ausgang und dann seid ihr mittendrin, sie schauen sich fasziniert um. Wie putzig. Ich meine noch ein letztes Mal sorgenvoll, immer den Pfeilen nach, und wünsche einen schönen Tag, dann überlasse ich sie ihrem Schicksal und steige in meine U-Bahn. Muttergefühle kommen in mir hoch. Kann ich einen verplanten Anarcho-Punk, der die Polizei fragen wollte, wo das Fahrgeschäft ist, in dem er arbeiten soll; kann ich den, und zwei junge, hübsche kornblumenkulleräugige, unbedarfte Land-Mädchen wirklich alleine über die Wiesn laufen lassen?

Ich kann. Ich fahre nach Hause, rede mir ein, Caro, du spinnst, die sind auch ohne dich groß geworden und haben überlebt. Denke an die Menschenmassen, welche die beiden Mädchen unbarmherzig zermalmen werden. Frage mich, wo nur ihre Mütter sind, warum sie die beiden ganz alleine, mutterseelenalleine, in die große, gefährliche Stadt lassen. Zu den ganzen rüpelhaften, ungezogenen, heillos betrunkenen Männern, die nicht mal ihre Sprache (Bayrisch!) verstehen.
An betrunkene Italiener, die meinen schlechtgekleideten Anarcho trietzen; wie er drei Mal um den gesamten Festplatz läuft, weil er das Fahrgeschäft nicht findet.

Leute, ich weiß, ich spinne, aber: Ich habe ein schlechtes Gewissen. Auch wenn ich Wiesn-Irren sonst die Pest an den Hals wünsche, ich leide. Hoffentlich kommen sie alle wieder heil nach Hause zu Mutti.

2 Kommentare

  • schrieb am 17. September 2011 um 22:05 Uhr (#)

    mach dir keine sorgen! die sind nicht arm und klein..nur ein bisschen naiv und später ein bisschen besoffen…aber der bierkonsum steigert ja bekanntlich die kältetoleranz..da können sie heute nacht schon bisschen verloren gehen ;)
    und ja: wiesn zeit geht gar nicht. man sollte genau dann urlaub buchen..also alles richtig gemacht!

    • schrieb am 18. September 2011 um 09:35 Uhr (#)

      :) Oh ja. Dann gibts das Caro-Wetter von der Mittelmeerinsel aus… Nur schnell weg mit uns…

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