Ganz oft werde ich in der Arbeit nach meinem Alter gefragt. Ich vermute, das liegt daran, dass ich erstens mit so vielen Bürohengsten herumhänge und zweitens mein Alter schwer zu schätzen ist. Auf der Bühne werde ich manchmal für 16 gehalten, eine von den Geschäftsbekannten hat mich neulich auf sportliche 32 eingestuft und meinte mit einem Augenzwinkern, ich müsste mich ja (wie sie…) auch schon langsam beeilen, wenn das mit Kindern noch was bei mir werden soll. Klasse.
Egal. Dunkle Brille und Kostüme schlagen eben mindestens fünf Jahre drauf, wenn nicht mehr.
Und wenn die mich so nach meinem Alter fragen und ich es ihnen dann teilweise auch sage, und die Reaktionen beobachte, dann wird mir klar, wie alt sie eigentlich selbst alle sind. Und was sie in ihrem Leben schon alles erreicht haben, gesehen haben, erleben durften. Aber auch, in welch gefestigten Strukturen sie leben. Was ich nicht tue. Manchmal höre ich Sätze wie: „Ach ja, in Ihrem Alter, da wollte ich ja auch noch so viel machen…“ Und wenn ich dann neugierig und ein bisschen frech bin, frage ich: „Und, haben Sie das dann gemacht?“, und dann kommt als Antwort meistens etwas, das klingt wie: „Ach, wissen Sie, Frau Schleibinger, das ist alles nicht so einfach…“ und dann schließt sich meistens die Story vom Pferd an.
Ja, es ist nicht so einfach. Denn jeder von uns beginnt irgendwann, einen Weg zu beschreiten. Erst ist es ein schmaler, sandiger Pfad, der aus der Spielwiese herausführt, sich aber noch durch blühende Hügelwiesen schlängelt, zwischen denen kleine Hasenbabys heumspringen, bevor er langsam asphaltiert und verbreitert wird. Und in eine Autobahn mündet, zum Beispiel. Es gibt ja durchaus auch Abzweigungen. Aber wenn man den Weg nicht als Weg an sich, sondern als die Hinführung zu einem Ziel betrachtet, wird das Ganze bedeutend schwieriger. Dann nämlich gerät man, wenn man der Richtung folgt, die man gewählt hat, in einen Strom aus Menschen, die einen begleiten, die in die gleiche Richtung laufen, das gleiche Ziel haben, die vielleicht sogar mit einem ihr Leben führen. Das ist ja auch schön, Weggefährten zu finden, Partner zu haben.
Aber was, wenn man irgendwann merkt, dass der Weg, den man gegangen ist, nicht dorthin führt, wohin man will? Das Ziel ein anderes ist? Je weiter man gegangen ist, je mehr man im Strom der Bekannten (mit)treibt, kurz, je älter man ist, desto schwerer ist es, dann eine Abzweigung zu nehmen. Man muss sich dazu aus dem Strom lösen, sich umschauen nach Alternativen, nach anderen Wegen, braucht vielleicht einen Kompass, um sich neu zu orientieren. Es ist nicht unmöglich, aber es ist schwer.
Und dann die Vorstellung, in die falsche Richtung gelaufen zu sein. Oder, noch schlimmer, passiv mit dem Strom der anderen, dem Geist der Zeit oder ähnlichem in dieser Kategorie, mitgeschwommen zu sein. Festzustellen, dass man das, was man gerade hat, worauf man sich gerade zubewegt, eigentlich überhaupt nicht will. Dass es vielleicht eine Alternative gibt, einen besseren Weg, einen interessanteren Beruf, unterhaltsamere Freunde, einen Partner, den man mehr liebt.
Davor habe ich am meisten Angst. Irgendwann so alt zu sein, so weit gegangen, dass es nicht mehr möglich ist, die Wege zu ändern, die man geht. Dass man sich nicht mehr traut, aus den Strukturen auszubrechen, in denen man sich bewegt, dass es nicht mehr ohne weiteres möglich ist, dass man sich in Zwänge gefügt hat (Kredit fürs Haus, Kinder, Familie, Göttergattin), die man nicht ändern kann. Mit denen man sich abfinden muss.
Abfinden. Das Wort trifft doch das Grauen. Dass man eines Tages in ein Stadium kommt, in dem man sich mit seinem Leben abfindet, anstatt es zu gestalten und zu genießen.
Ihr merkt, diese Angst, sie treibt mich ein wenig um, zur Zeit. Wir werden sehen. Ich bin jung und habe viele Wege vor mir, Möglichkeiten, die es in die Hand zu nehmen und zu gestalten gilt.
Wir sehen uns dann, in zwanzig Jahren, wieder auf der Häschenwiese, zwischen Zitronenbäumen und Rosenhecken, die bis dahin gewachsen und groß geworden sind. Und ich bin dort, mit einem Buch in der Hand. Meinem Buch.