9.
Das schrill und hartnäckig klingelnde Telefon riss mich am nächsten Morgen um neun Uhr aus Albträumen.
Ich fluchte und fiel fast aus dem Bett, stieß mich an der Bettkante und stolperte ins Wohnzimmer.
Wütend riss ich den Hörer ans Ohr.
„Ja?“, grummelte ich.
„Oh, Entschuldigung, ich hab dich geweckt, oder?“
Bettina. Ich grunzte etwas in den Hörer und ließ mich zurück ins Bett fallen.
„Ach Vera, bitte entschuldige, tut mir leid, ich hab ganz vergessen, dass du wann anders aufstehst als ich.“
Auf meinem Kopf saß eine große schwarze Krähe und pochte mit ihrem langen, dünnen Schnabel dumpf auf meinen Schädel.
„Hm.“
„Vera? Ist... alles in Ordnung?“
„Klar, was soll sein? Boah, ich glaub, ich hab nen Kater.“
„Was zur Hölle hast du gestern Abend gemacht? Du bist auf Gossip online!“ Ihre Stimmte überschlug sich fast.
„Waaas?!“, entfuhr es mir. „Häh?“
„Also, auf der News-Seite haben sie ein großes Bild mit dir und Jason McCarthy an einer Bar. Ziemlich verschwommenes Bild, man kann kaum was sehen. Aber natürlich hab ich dich sofort erkannt!“ Ihre Stimme platzte vor Stolz.
„Oh Mann“, seufzte ich. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was Jason davon hielt.
„Und die Schlagzeile: Jason McCarthy vergnügt sich mit schöner Unbekannten auf der Aftershow-Party! Sag mal, Vera, was ist da eigentlich los?“
„Nichts ist da los, gar nichts.“ Ich seufzte tief. Wie sollte ich ihr das bloß erklären.
„Aber...“, begann sie, ich unterbrach sie gleich.
„Pass auf, ich erklär's dir: Jason hat mich angerufen und zur Premiere eingeladen, und dann bin ich da doch hingegangen, obwohl ich eigentlich keine Lust dazu hatte. Jedenfalls war ich dann doch dort und nach dem Film, als ich gerade gehen wollte, kam eine seiner Assistentinnen oder so zu mir und meinte, ob sie mich zu ihm bringen dürfte, er würde warten.“
„Jason McCarthy hat auf dich gewartet?“ Ihre Stimme überschlug sich.
„Ja, in der Lounge. Also eigentlich hab ich kurz gewartet, bis er mit den Fotografen fertig war. Dann kam er zu mir und wir haben uns unterhalten. Ziemlich lange, bestimmt eineinhalb Stunden.“
Bettina kiekste etwas.
„Es war nett, irgendwie. Wir haben uns ganz gut verstanden.“
„Nett? Gut Verstanden?“ Pfeifend atmete sie aus. Ich hielt den Hörer von meinem Ohr weg.
„Und dann?“, fragte sie.
„Wie und dann?“
„Naja, danach. Was habt ihr gemacht, nachdem ihr euch unterhalten habt?“ Ihre Stimme klang beinahe ehrfürchtig. Als ob es so toll wäre, einen Siebzehnjährigen flach zu legen.
„Nichts. Ich bin nach Hause gegangen.“
„Alleine?“, bohrte sie weiter.
„Natürlich alleine. Hallo? Was denkst du da gerade?“
„Nichts. Aber du bist mit Jason McCarthy auf einem Foto drauf und die halbe Teenie-Welt steht Kopf. Da darf man doch mal fragen, oder?“ Sie hörte sich leicht angesäuert an.
„Ja, ja. Aber wir haben uns wirklich nur unterhalten. Ganz normal. Naja, fast normal, wenn man bedenkt, dass er aus etwas anderen Verhältnissen stammt. Er hat einen Privatlehrer...“
„Der lernt noch was? Lesen?“ Sie lachte verächtlich.
„Na, er will wohl nicht dumm sterben.“
„Oh Mann, das ist so verrückt.“
Ich seufzte laut und drückte ein Kissen auf meinen dröhnenden Schädel.
„Habt ihr euch betrunken?“, fragte Bettina belustigt.
„Wonach hört es sich denn an?“
„Du klingst, als hättest du die letzten Nächte getrunken. Whiskey.“
„War kein Whiskey. War Sprizz“, stöhnte ich. „Nina hat ihm das verraten.“
„Nina? Die kleine Bitch? Verraten?“ Sie konnte Nina nicht besonders leiden.
„Er hat sie wohl ein bisschen ausgequetscht über mich. Und dann hat er Sprizz bestellt für uns.“
Sie quietschte kurz auf. „Er hat Nina über dich ausgequetscht. Oh mein Gott, er hat sie ausgefragt. Er interessiert sich für dich.“ Fassungslos brabbelte sie vor sich hin.
„So ein Käse. Er findet mich einfach nur nett. Und ich ihn auch“, wiegelte ich ab.
„Einfach nur nett? Also bitte? Der ist hammergeil!“
„Also...“
„Ach komm schon, er sieht unglaublich gut aus! Das musst du doch zugeben!“
„Ja, schon, aber...“
„Er ist ein Traum von einem Mann! Na gut, ein bisschen jung vielleicht, aber sonst...“
„Bettina! Jetzt hör mir mal zu! Da ist nichts, gar nichts, wir haben uns nur unterhalten. Er sieht gut aus, ja, er ist nett, und, weißt du was? Er ist steinreich, berühmt, ein arroganter, verzogener Schnösel und minderjährig! Er ist sieben Jahre jünger als ich!“, fauchte ich ins Telefon. Der Vogel auf meinem Kopf wurde langsam unerträglich. Ich brauchte dringend eine heiße Dusche und einen starken Kaffee.
„Er hat bald Geburtstag!“
„Bettina!“
„Ist ja gut.“ Nun seufzte sie. „Das hat noch ein Nachspiel“, meinte sie dann. Daran zweifelte ich nicht, deswegen beschloss ich, ihr nichts davon zu erzählen, dass ich mit ihm Essen gehen würde. Sie würde sich sonst wieder aufregen, das würde kaum förderlich für mein Wohlbefinden sein.
„Vera, ich will alles wissen. Wirklich alles. Du erzählst es mir sofort, wenn noch was passiert, klar?“
„Ja, natürlich“, antwortete ich gedehnt. Natürlich nicht. Ich kam ja noch nicht einmal selbst damit klar.
„Ok, dann schlaf mal weiter. Ich werde mit der Gossip telefonieren und dafür sorgen, dass sie das Foto aus dem Netz nehmen. Du hast doch bestimmt nichts dagegen?“
„Nein, gar nichts. Ich wäre dir sogar beinahe dankbar.“ Sie war Anwältin. Und Anwaltstochter. Ihr Mutter hatte eine der teuersten Kanzleien der Stadt.
„Hervorragend. Wie schön, ich kann etwas für dich tun. Wenn das so weiter geht, brauchst du bald eine Pressesprecherin, und die werde dann ich sein“, zwitscherte sie vergnügt ins Telefon.
„Fantastisch“, bemerkte ich trocken. Warum klangen die Wörter fantastisch und fanatisch nur so ähnlich?
„Bis dann.“ Sie hatte aufgelegt. Endlich.
Stille.
Nein, nicht ganz. Es kratzte an meinem Bettpfosten.
Der fette Kater sprang geräuschvoll auf mein Bett und pirschte sich laut schnurrend wie ein Rasenmäher heran.
Da ich ahnte, was er vor hatte, stand ich vorsichtig auf und wankte in die Küche.
Ich hätte gestern Abend etwas essen sollen, und Wasser trinken. So schlecht hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.
Nach drei Tassen Kaffee und einer trockenen Semmel rief ich im Büro an. Es gab keine Neuigkeiten, mein erster Termin war um zwölf. Mittagessen mit einem Kunden. Bis dahin war ich wieder fit.
Nach einer ausgiebigen heißen Dusche zog ich mich an und beschloss, ein wenig Spazieren zu gehen. Es war sonnig und warm, ein angenehmer Frühlingstag.
Im Park setzte ich mich auf eine Bank in der Sonne und dachte nach.
Er war so seltsam. Seine Laune. Ich rief das Bild in meinem Kopf auf, wie er auf der Party vor mir gesessen hatte, mit seinen blutigen Händen, roten Augen und dem apathischen Blick. Dann legte ich das herzlich lachende, strahlende Bild von gestern Abend daneben. Es passte nicht.
Vor meiner Tür, unsicher und schüchtern.
Mit den Kameras flirtend und offensiv lachend.
Es passt einfach nicht zusammen.
Ich musste an die zahlreichen Schlagzeilen denken, die ich schon gesehen hatte, oftmals nur im Vorbeigehen. Von Unfällen, Schlägereien, betrunkenen Ausrastern, Drogen, skandalösen Partys. Nichts von alledem hatte ich bisher persönlich gesehen. Oder doch?
Er interessierte mich, er übte eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus. Aber das tat er vermutlich bei allen Frauen. Er war jung, berühmt, reich, geheimnisvoll, sah unheimlich gut aus, er hatte Charme und war unglaublich nett. Er konnte zumindest unglaublich nett sein.
Die Sonne wärmte mein Gesicht, ich knöpfte meinen schwarzen Mantel auf und lächelte vor mich ihn.
Ich würde einfach abwarten, und alles auf mich zu kommen lassen. Denn ich mochte ihn, er war mir sympathisch. Zumindest die Seite von ihm, die er mir bisher gezeigt hatte.
Nach einer Weile ging ich zurück, um mich für das Geschäftsessen vorzubereiten.
Ich brachte den Termin konzentriert hinter mich, obwohl mir Jason McCarthy im Hinterkopf herumspukte. Doch es würde mir nichts bringen, noch länger über ihn nachzugrübeln. Ich würde ihn noch ein wenig beobachten, vielleicht ergaben sich dann meine Rätsel von alleine.
Nach zwei weiteren Terminen und einer Location-Besichtigung war mein offizieller Arbeitstag zu Ende. Ich fuhr zurück in meine Wohnung und setzte mich vor meinen Computer. Home-Office wusste ich zu schätzen, so konnte ich in aller Ruhe meine Arbeit erledigen, zu den Zeitpunkten und an den Orten, die mir passten. Ein wenig Organisationsarbeit stand mir noch bevor, am Freitag betreute ich ein kleines Event, eine Firmenfeier, die entsprechenden Pläne mussten noch ausgearbeitet und weitergegeben werden. Um Mitternacht schloss ich alle Programme und fuhr den Computer herunter. Ich trug den trägen Kater, der die ganze Zeit auf meinem Schoß geschlafen hatte, in seinen Korb, in spätestens zehn Minuten würde er an meiner Schlafzimmertür kratzen und in mein Bett wollen.
Nach einem Abstecher ins Bad ließ ich mich in mein Bett fallen. Ich hatte es heute morgen nicht gemacht und bereute es nun, da ich in den zusammengeknautschten Kissen lag. Doch ich war zu müde, um sie aufzuschütteln. In wenigen Minuten war ich eingeschlafen, das Kratzen an meiner Tür nahm ich kaum noch wahr.
Und wieder riss mich das nervtötende Klingeln des Telefons aus meinem Schlaf. Es war halb neun, ich fluchte.
„Vera?“
Bettina. Ich stöhnte.
„Ja?“
„Hab ich dich schon wieder geweckt? Na, egal, ich wollte dir nur kurz sagen, dass das alles geklappt hat, mit dem Foto meine ich.“
„Häh?“ In meinem Gehirn begann es zu arbeiten.
„Na das auf Gossip online, das Foto von dir und Jason...“
„Ach so.“ Sie hatte sich darum kümmern wollen, hatte ich erfolgreich verdrängt.
„Es hat alles wie am Schnürchen geklappt. Weißt du, da drin durfte überhaupt gar nicht fotografiert werden, folglich dürften auch keine Fotos existieren. Aber auf einem Bild, das am Eingang von ein paar Schauspielern aufgenommen worden war, hat dich eine Gossipredakteurin beim Retuschieren gefunden. Im ersten Stock, hinter den Fenstern. Also euch beide, Jason und dich.“ Sie dehnte die Wörter beide und Jason auffällig.
„Jedenfalls, der Tussi ist aufgefallen, dass er mit einer unbekannten Brünetten an der Bar saß. Und sie hat eine Riesenstory gewittert, das Bild bearbeitet und an den Chefredakteur weitergeleitet. Der Typ hat sie ausgelacht und gemeint, dass das ja wohl keinen Cent wert sei. In die Online-News hat es das Foto dann doch noch geschafft, vor allem, als dann einer von den Schauspielern ausgeplaudert hat, dass ihr da eine halbe Ewigkeit gesessen seid und er wohl seine repräsentativen Pflichten vernachlässigt hat, wegen der Unbekannten. Kannst es dir bestimmt vorstellen, Skandal.“
Ich gähnte. „Aber das war doch die Aftershow-Party, der offizielle Teil war doch schon vorbei. War doch gar keine Presse mehr da“, meinte ich müde.
„Hm, aber vielleicht hätte er sich mit den anderen Schauspielern unterhalten sollen oder so. Vielleicht fühlen die sich gekränkt, weil er nicht mit ihnen rumhing.“ Sie lachte.
„Hm“, machte ich.
„Na, egal, auf jeden Fall habe ich die zuständige Gossipredakteurin angerufen und ihr gesagt, dass ich deine Anwältin bin und sie das Bild rausnehmen soll, weil es Persönlichkeitsrechte verletzt und da drinnen an der Bar eh nicht fotografiert werden durfte. Hat sie erst nicht sonderlich beeindruckt, erst, als ich ihr mit 'ner Klage gedroht hab, hat sie darüber nachgedacht. Und weißt du, was sie dann meinte?“
„Nein“, sagte ich tonlos.
„Sie meinte, wenn ich sie verklagen wollte, würde ich ja wissen, wer auf dem Bild neben Jason McCarthy drauf ist.“
„Die ist ja 'ne ganz 'ne Schnelle“, kommentierte ich trocken.
„Ja, und sie meinte, sie würde mich dafür bezahlen, wenn ich ihr den Namen sagen würde. Sie würde 'ne Riesenstory daraus machen. Die hat doch 'nen Knall!“ Sie hörte sich sehr entrüstet an.
„Was denkst du denn? Jason ist nicht gerade unbeliebt bei den Gossip-Lesern...“
„Ganz unverblümt fragt die mich, ob ich ihr sagen könnte, wer die Dame auf dem Foto sei! Ich hab ihr gesagt, dass sie das einen feuchten Dreck angeht und ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie die Story vergessen soll. Klage und so. Mal sehen, was da noch nachkommt.“
„Hm.“
„Diese Journalistenhorde tickt wegen den McCarthy-Brüdern völlig aus. Das ist so verrückt. Es sind doch nur zwei gutaussehende Jungs. Heute stand schon wieder was in der Zeitung. Der Kleine hat wohl ordentlich im Baby gefeiert und sich geprügelt, und der Große, dein Jason, hat ihn rausgehauen.“
„Er ist nicht mein Jason“, fauchte ich ins Telefon.
„Ist ja gut. Jedenfalls drehen die wegen denen voll am Rad, das ist doch total bescheuert. Die haben echt einen Knacks.“
„Einen Vollknacks“, bestätigte ich.
„Und, was sagst du, hab ich das nicht gut gemacht?“ Sie schien sich wieder ein wenig zu beruhigen.
„Hervorragend, ganz hervorragen. Danke“, grummelte ich. Wie dankbar ich ihr sein musste, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausmalen.