6.

Die nächsten vier Tage verbrachte ich mit den Planungen für die Modenschau und anderen Veranstaltungen, die anstanden. Jeden Morgen, wenn ich in die Küche schlurfte, um mir Kaffee zu machen, blieb mein verschlafener Blick an dem Blumenstrauß hängen, der auf der Kommode im Flur stand, und ich erfreute mich an den Blüten. Es war vollkommen gleich, was ich in der Wohnung tat, ich konnte von fast jedem Ort aus den Strauß sehen, außer natürlich, wenn ich die Türen schloss.
Wenn ich abends müde und erschöpft zurückkam, strahlten mir die Blumen entgegen. Es war ein angenehmes Gefühl.
Am fünften Tag war der Strauß noch immer nicht verwelkt. Ich bemerkte, dass die Farben der Blüten dunkler geworden waren, kräftiger, und nicht mehr so hell und durchsichtig leuchteten wie an den Tagen zuvor. Ein paar Tage würde sich der Strauß noch halten. Eigentlich fand ich das schade, ich hatte mich an den schönen Anblick gewöhnt.

Obwohl ich fest damit gerechnet hatte, einen unfreundlichen Artikel über meine Party und den Zusammenhang zu der Verletzung Jason McCarthys in den Zeitungen zu finden, zumindest in der Gossip, fand ich nichts dergleichen. Nicht einmal eine kleine Notiz über die McCarthy-Brüder, geschweige denn über meine Party. Darüber war ich erleichtert, allerdings auch ein wenig enttäuscht, zeigte es doch, dass sich niemand dafür interessierte, wer auf meine Partys ging, und dass es sie überhaupt gab.
Der Journalist, der in der Agentur angerufen und um eine Stellungnahme zu Jason McCarthys Verletzung gebeten hatte, hatte nichts veröffentlicht. Es gab also auch nichts, worüber ich mich hätte aufregen können.

Am sechsten Tag läutete abends um halb acht mein Telefon. Ich saß gerade auf dem Sofa und las. Genervt über die Störung hob ich den Hörer ab, meldete mich und ließ mich zurück auf das Sofa fallen.
„Hi, hier ist Jason.“
Ich stutzte und richtete mich aus meiner liegenden Position auf.
„Hallo“, sagte ich.
„Also, äh... ich dachte, ich rufe dich mal an.“
Eine kurze Pause entstand.
„Dann können wir uns unterhalten“, sagte er.
„Ja“, meinte ich. Unterhalten?
„Nächste Woche ist die Premiere von meinem neuen Film.“
„Das freut mich für dich.“
„Die Premiere ist am Sonntag.“
„Was ist das denn für ein Film?“
„Ich spiele den Sohn von einem Arzt, der am Münchhausen-by-proxy-Syndrom leidet, der sein Kind gewissermaßen tot pflegt.“
„Aha. Er denkt also, sein Sohn hätte ständig irgendwelche Krankheiten?“
„Ja, und der umsorgt ihn dann die ganze Zeit. Am Anfang ist es noch nicht so krass, aber später wird es dann voll schlimm. Bis er stirbt.“
„Wer? Der Arzt? Der Vater?“
„Ne, der Sohn. Also ich. Er verschreibt mir irgendwelche Medikamente, weil er denkt, ich wäre krank. Und dann sterbe ich.“
„Tragisch.“
„Interessiert dich so was?“
„Nein, aber es hört sich ungemein spannend an.“ Die Ironie in meiner Stimme war nicht zu überhören. Dachte ich.
„Magst du zur Premiere kommen? Ich habe eine Karte.“
Natürlich hatte er eine Karte.
„Also, ich weiß nicht...“
„Und danach auf die Aftershowparty?“
„Ich gehe nicht so gerne auf Partys, ich organisiere sie lieber.“
„Um halb acht beginnt die Premiere. Im Filmcasino. Ich schicke dir die Karte, wenn du magst, kannst du ja hingehen, wenn du keine Lust hast, kannst du es ja auch bleiben lassen.“
„Aber...“ begann ich, doch ich hörte ihn am anderen Ende der Leitung mit jemandem sprechen.
Dann sagte er: „Ich muss schnell telefonieren, auf der anderen Leitung... wir sehen uns dann am Sonntag?“
„Ich schau mal.“
„Ok, bis dann, ciao.“ Und er legte auf.

Ich war ein wenig überrascht, ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich anrufen würde. Und zu seiner Premiere einladen würde.
Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er überhaupt in einem neuen Film mitspielte.
Einen Augenblick lang saß ich ganz ruhig da und dachte nach. Nein, eigentlich dachte ich nicht nach, ich dachte gar nicht, ich ließ die Gedanken in meinem Kopf einfach laufen, ohne sie zu lenken oder ihnen auch nur zuzusehen. Mir war das alles sehr suspekt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, ob ich zu der Premiere gehen sollte, mir den Film ansehen sollte, die Blumen in Stücke reißen und ins Klo hinunterspülen sollte, mir einen neuen Telefonanschluss mit Geheimnummer zulegen oder diese überschwänglichen Gefühlsschwankungen einfach zügeln und es lassen sollte, mir über etwas Gedanken zu machen, was ich sowieso nicht klären können würde, außer, ich würde ihn anrufen, und das würde dann doch zu weit gehen.
Und wenn ich ihn anrufen wollen würde, dann müsste ich davor Nina anrufen und sie um die Nummer bitten, und als ich bei diesem Punkt der Überlegung war, fragte ich mich, warum ich ihn überhaupt anrufen wollte und was der Auslöser zu solch befremdlichen Gedanken war. Und, ob ich völlig durchgedreht war.

Am Sonntag, zwei Tage später, entschied ich mich um halb sieben, dass ich doch zu der Premiere gehen würde.
Als ich die Karte in meinem Briefkasten gefunden hatte, in einem Umschlag mit einem kurzen Brief, in dem „Ich würde mich sehr freuen, dich auf der Aftershowparty zu treffen, viel Vergnügen, Jason“ stand, hatte ich mich entschlossen, auf keinen Fall dorthin zu gehen. Ich interessierte mich nicht für die eingebildeten, verzogenen McCarthy-Brüder, eigentlich auch nicht für Filme, und überhaupt nicht für Kinopremieren, ich ging am liebsten bei meiner Oma in Wasserburg ins Kino, da lief nur eine kleine Auswahl an Filmen, und, wie das auf dem Land so ist, immer einen Monat länger als in der Stadt. Außerdem waren die Vorstellungen immer schlecht besucht und ich hatte im Kino meine Ruhe und musste mich nicht über quengelnde Kinder, knutschende Pärchen und nörgelnde Rentner ärgern. Oder Popcorn werfende Jugendliche. Kichernde hochpubertäre Mädchen und um das Wohl ihrer Kinder besorgte Hausfrauen, die bei der kleinsten Knutscherei den Kindern die Hände über die Augen hielten, nicht zu vergessen, damit das Horrorkabinett der Kinobesucher komplett war.
Ich wollte also eigentlich nicht hingehen, der Film interessierte mich nicht, ich hatte in der Zeitung ein Interview mit dem Regisseur gelesen, der mir unsympathisch war, ich wollte auch dem Jungstar nicht begegnen und eigentlich nur auf dem Sofa liegen, meinen fetten Kater kraulen und lesen.
Das wollte ich, doch eine Stunde vor Vorstellungsbeginn überlegte ich es mir anders.
Ich zog meine Jogginghose aus und eine Jeans an, mein farblich etwas verwaschenes T-Shirt aus und eine weiße Bluse an, warf einen Blick in den Spiegel und verbrachte darauf eine Viertel Stunde im Bad, steckte mir mit einer Klammer die Haare mehr schlecht als recht hoch, schlüpfte in ein Cordsakko, zog das erstbeste paar Schuhe an, die keine Turnschuhe waren und hastete die Stufen hinunter. Ich hatte keine Ahnung, wann man sich als unauffälliger Premierenbesucher am besten in das Kino mogelte, um nicht gesehen zu werden, doch mir schwante, dass ich diesen Moment schon verpasst hatte und zu spät war. Als ich ins das Auto sprang und losfuhr, überlegte ich an der Ausfahrt meiner Tiefgarage noch, ob ich das wirklich machen sollte, doch dann wischte ich meine Bedenken weg und gab Gas.


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