3.
Eigentlich hätte ich ihn an diesem Abend nicht mehr wiedersehen sollen, doch es kam anders. Nach etwa zwanzig Minuten stürzte Nina zu mir an die Bar.
„Vera, komm, schnell!“, stieß sie hervor.
Alarmiert trocknete ich mir die Hände ab, schwang mich unter dem Tresen durch und folgte ihr.
Vor den Herrentoiletten saß eine Gestalt auf dem Boden.
Als ich näher kam, sah ich, wer es war.
Jason McCarthy.
Scheiße, schoss es mir durch den Kopf. Er befand sich noch im Club. Und etwas war mit ihm nicht in Ordnung.
„Seine Hand“, stammelte Nina.
Ich trat zu ihm und ging vor ihm in die Hocke. „Zeig mal her“, sagte ich knapp und griff nach seinem Arm. Er sah mich nicht an.
Als er seine linke Hand von der rechten löste, sah ich einen langen Schnitt, der sich von der oberen Handkante bis in den Handteller der Innenfläche zog. Er hatte sich einmal rund um die Hand aufgeschnitten. Hellrotes Blut tropfte herunter, beide Hände waren blutverschmiert.
„Wie ist das denn passiert?“, fragte ich, ohne eine vernünftige Antwort zu erwarten.
„Da stand so ein Typ mit einem Glas, und irgendwie ist Jason mit dem zusammengestoßen und das Glas fiel runter... und er hatte etwas gesagt und dann war da überall Blut“, berichtete sie verwirrt. Sie war sehr blass.
„Ich kümmere mich darum“, sagte ich. Scheiße, scheiße, scheiße, dachte ich, es ist halb eins und der minderjährige Stargast sitzt verletzt in meinem Club.
Ich griff nach seiner unverletzten Hand. „Komm mit“, meinte ich und zog ihn hoch. Nina verschwand, sie holte wohl seine Sachen oder sagte ihren Freunden Bescheid.
Ich ging in Richtung Garderobe, er folgte mir, mit der linken Hand den Schnitt an der rechten zu pressend und mit verkrampftem Gesicht.
Ich sperrte die Hintertür zur Garderobe auf. Dort war es ruhiger und ein Verbandskasten hing an einer Wand.
„Setz’ dich da hin“, sagte ich knapp und wies mit der Hand auf einen Stuhl.
Er tat, was ich sagte, ich holte ein Handtuch und den Verbandskasten.
Zum Glück enthielt er Handschuhe, die ich mir schnell überstreifte. Dann griff ich nach der verletzen Hand, um sie mir im Licht anzusehen.
Der Schnitt blutete stark, doch er war nicht so tief, wie ich zuerst gedacht hatte.
„Das ist nicht so schlimm“, meinte ich und tupfte das Blut um die Wunde herum ab. Ich griff nach einer Kompresse und drückte sie auf den Schnitt. „Halte das mal.“
Dann öffnete ich ein Verbandspäckchen und begann, die Hand zu verbinden. Sorgfältig wickelte ich die Mullbinde um die Hand, zog sie ein wenig fester, in der Hoffnung, die Blutung würde schneller aufhören.
Zwischendurch sah ich auf.
Er starrte mich an. Sein Gesicht war blass, die markanten Züge verkrampft, seine Augen gerötet. Er hatte mit seinen Zähnen auf seine Unterlippe gebissen, sie war geschwollen und blutete ebenfalls.
„Es wird gleich besser“, sagte ich ruhig, fixierte den Verband und wischte das Blut an seiner anderen Hand ab.
Er saß unbeweglich auf dem Stuhl, fast apathisch, und starrte ins Leere.
„So, fertig“, meinte ich schließlich kühl. „Lass das Morgen von einem Arzt anschauen, nicht, dass es sich entzündet. Als Vorsichtsmaßnahme. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“
Ich hatte mich erhoben und räumte die Verbandskiste weg, er saß noch immer da und bewegte sich nicht.
„Ist alles in Ordnung.... sonst?“, fragte ich vorsichtig.
Er hob den Kopf. Seine geröteten Augen glitzerten im schummrigen Licht der Garderobe.
„Es tut mir leid“, sagte er, ganz leise, er flüsterte fast.
„Ist schon gut“, antwortete ich beschwichtigend. Er wirkte vollkommen verstört.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Nina stürzte herein.
„Hier bist du! Jason? Was ist mit deiner Hand?“
„Es ist ein ziemlich langer Schnitt, er sollte Morgen mal zu einem Arzt gehen“, erklärte ich.
Sie beachtete mich kaum, sondern nickte nur geschäftig, trat zu ihm und strich ihm über die Schulter, bis er ihre Hand wegschob und energisch aufstand.
„Komm, wir fahren nach Hause“, meinte Nina sanft und die beiden verließen die Garderobe.
„Ciao Vera, und, danke“, sagte sie, als sie in der Tür stehen blieb und sich noch einmal umdrehte.
„Kein Problem. Kommt gut nach Hause“, antwortete ich und lehnte mich an die Wand.
Im Gang draußen hallten die Geräusche ihrer Stöckelschuhe. Von der anderen Seite dröhnten die Bässe der Musik durch die Wand, sodass die Jacken, die in der Garderobe hingen, leicht im Rhythmus der Musik schwangen. Das gedämpfte Licht ließ den Raum ein wenig verraucht wirken, obwohl im gesamten Gebäude Rauchverbot herrschte. Wie Nebelschwaden durchzogen feine Dunstwolken den Raum.
Ein paar Momente lang stand ich ganz ruhig da, die Augen geschlossen, und hörte auf das Rauschen des Blutes in meinem Inneren und das Dröhnen der Musik draußen, bis es an die geöffnete Tür klopfte. Eines der Barmädchen stand dort und sah mich schüchtern an.
„Entschuldigung, aber... an der Bar ist...“, sie stockte.
Ich nickte und trat zu ihr. „Ich komme“, sagte ich, schloss die Tür ab und folgte ihr.
Der Rest des Abends verlief ruhig. Ab drei Uhr begann sich die Feier aufzulösen und die ersten – volljährigen – Gäste verabschiedeten sich. Um fünf Uhr waren nur noch ein paar einzelne da, und der harte Kern meines eigenen Freundeskreises. Ich verabschiedete die Barmädchen und Securitys und sperrte zu. Etwa eineinhalb Stunden lang tanzte ich mit meinen Freunden ausgelassen auf der fast leeren Tanzfläche und genoss es, endlich selbst feiern zu dürfen. Um sieben Uhr schließlich hatten wir uns ausgetobt. Wie verließen den Club, leicht angetrunken, und ich fuhr mit einem Taxi nach Hause.
Beschwingt trat ich in die Wohnung, der Abend war ein voller Erfolg gewesen. Morgen würde ich mich um die Kasse kümmern, doch so weit ich das vorher überprüft hatte, war die Feier äußerst rentabel gewesen.
Ich trank einen Pfefferminztee, warf noch einen kurzen Blick in die Zeitung, die ich mitgenommen hatte, und ging dann ins Bett. Schnell war ich eingeschlafen.