14.
Die nächsten Tage versuchte ich, ganz normal meiner Arbeit nachzugehen, es gelang mir ziemlich gut. Ich organisierte, telefonierte, besuchte Kunden und traf mich mit Geschäftspartnern, alles klappte wie immer. Ein gut geöltes Räderwerk, das Leben schnurrte geräuscharm vor sich hin.
Am Donnerstag läutete ein paar Mal mein Telefon, ich war allerdings nicht zu Hause. Ich bemerkte nur die verpassten Anrufe.
Am Freitag Vormittag riss mich das Telefon aus dem Schlaf. Missgelaunt ging ich dran, ich rechnete damit, dass Bettina mich über Neuigkeiten ausfragen würde. Ich würde ihr nichts berichten können.
„Ja?“, meldete ich mich.
„Hallo“, antwortete eine ruhige Stimme.
„Oh, hallo Jason“, stammelte ich.
„Vera.“ Er verstummte.
„Wie geht es dir?“, fragte ich.
„Gut“, sagte er. Es klang merkwürdig.
„Wie war die Party noch? Ich wollte mich von dir verabschieden, hab dich aber nicht mehr gefunden. Ich hoffe, die anderen haben dir meine Grüße ausgerichtet.“
„Haben sie, danke. Die Party war noch ganz gut.“
„Ist... alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich vorsichtig.
„Klar, wieso?“
„Du hörst dich so seltsam an... so verändert.“
„Nein, alles super. Nur der Dreh ist ein bisschen stressig im Moment.“
„Ach so.“
„Ja.“ Er verstummte wieder.
„Vera?“, fragte er dann.
„Ja?“
„Ich bin am Wochenende in München. Können wir uns sehen?“
Mir fiel fast der Hörer aus der Hand.
„Äh, sicher“, stammelte ich.
„Schön. Am Samstag? Wir könnten ein bisschen Spazieren gehen oder so.“ Seine Stimme klang erleichtert.
„Ja, gerne.“
„Soll ich dich abholen?“
„Wenn du möchtest? Jetzt darfst du ja fahren“, meinte ich scherzhaft.
„Um drei bei dir?“
„Nachmittags?“, erkundigte ich mich erstaunt.
Er lachte leise. „Natürlich Nachmittags, Spazieren geht man doch dann, wenn es draußen schön ist, oder?“
„Stimmt. Ich war nur... etwas verwirrt.“
„Was hältst du von Tierpark?“
„Da willst du Spazieren gehen?“ Ich bemühte mich, meine Stimme nicht allzu entgeistert klingen zu lassen.
„Warum nicht? Ist es nicht schön da? Ich war schon lange nicht mehr dort.“
„Doch, doch, es ist schön da. Sie haben das Raubtierhaus schön hergerichtet.“
„Gut, dann bis morgen. Um drei.“
„Ja.“ Ich wollte mich gerade verabschieden, da fiel mir noch etwas ein. „Jason?“
„Ja?“
„Hast du mich gestern angerufen?“
„Fünf Mal.“
„Oh.“
„Ich hab dich ja jetzt erreicht.“
„Gut.“
„Bis dann, Vera. Schlaf noch schön“, murmelte er, dann legte er auf.
Mein Herz raste. Meine Kehle war staubtrocken.
Er hatte angerufen. Es war ihm egal, was Andrew ihm erzählt hatte. Er wollte mit mir Spazieren gehen.
Beruhige dich wieder, donnerte eine Stimme durch meinen Kopf. Er will nur mit dir reden.
Ich stand schwungvoll vom Sofa auf und lief in die Küche. Schlafen, von wegen. Ein schöner schwarzer Kaffee, eine Orange.
Lauwarme Dusche, der Heizkessel ging nicht. Es war mir egal.
Ab ins Büro. Ein Termin nach dem anderen, es war ein stressiger Tag. Es machte mir nichts aus, im Gegenteil, ich war dankbar über die Ablenkung.
Am Abend rief ich Bettina an und berichtete, dass Jason angerufen hatte. Ich verstand mich selbst nicht ganz, doch ich fragte sie um Rat.
„Keine Ahnung, ehrlich. Ich werde auch nicht schlau aus ihm“, gestand sie. „Ich meine, Andrew hat es ihm mit Sicherheit gesagt, vielleicht ist er, tut mir Leid, Vera, vielleicht ist er wirklich nicht auf die Art interessiert an dir. Vielleicht trifft er sich wirklich nur gerne mit dir, zum Reden.“
„Und was schlägst du jetzt vor?“, wollte ich nervös wissen.
„Gar nichts. Entspann dich, lass es auf dich zukommen. Nur die Ruhe.“
„Mhm. Ich versuch's“, presste ich zwischen den Zähnen hervor.
„Und, Vera? Zieh dir was hübsches an.“
„Soll das ein Witz sein?“
„Ich dachte nur...“
Ich stellte mich in meinen Schrank und starrte meine Kleiderauswahl an. Ich entschied mich für eine ziemlich neue Jeans und einen leichten violetten Kaschmirpullover. Dann ging ich ins Bett, ohne Abend gegessen zu haben.
Am nächsten Morgen wachte ich um acht auf und dachte, ich müsste verhungern. In Jogginghose und Sweatshirt ging ich zum Bäcker, schleppte mich danach die Treppe hoch und klappte an der Tür fast zusammen.
Ich beschloss, auf den Kaffee zu verzichten und machte mir einen Darjeeling mit Zitrone und Zucker.
Das ausgiebige Frühstück brachte mich wieder auf die Beine. Körperlich. Geistig fühlte ich mich wie ein Wrack, ein bröseliges, altes Haus, das jederzeit einzustürzen drohte. Es hatte begonnen. Er brachte mich um den Verstand.
Um Punkt fünfzehn Uhr klingelte es an meiner Tür, ich öffnete. Mein Körper reagierte schon wieder völlig übertrieben.
Jason stand vor der Tür, doch er strahlte nicht, wie bei den letzten Malen. Er sah angespannt aus, er schien seine Mundwinkel zu einem Lächeln zu zwingen. Seine Augen sahen traurig aus.
„Hallo Jason“, begrüßte ich ihn und versuchte, meine Stimme nett klingen zu lassen, denn ich war erschrocken.
„Hallo Vera“, antwortete er und stand unschlüssig im Türrahmen. Er machte keine Anstalten, einzutreten oder mich zu berühren.
„Wir können von mir aus gleich los“, sagte ich.
Er nickte und zwang sich erneut zu einem Lächeln. Er stieg vor mir die Stufen hinab, merkwürdig schweigsam.
„Fahren wir wieder mit deinem Auto?“, fragte ich, ich ertrug die Stille zwischen uns nicht mehr.
„Ja. Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, jetzt habe ich ja einen Führerschein.“
„Gut.“
Wir sprachen erst im Auto wieder miteinander. Er war vorausgegangen, um mir die Beifahrertür aufzuhalten und sie leise hinter mir zu schließen, dann stieg auch er ein.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich ihn, leicht besorgt.
„Ja. Ich glaube, ich sollte mich lieber fragen, ob alles in Ordnung mit dir ist.“ Er sah mich seltsam an.
„Wie meinst du das?“
„Egal.“ Er ließ den Motor an und fuhr aus der Einfahrt.
Gut, dachte ich. Dann eben nicht.
Er hielt auf dem Parkplatz vor dem Tierpark, wir stiegen aus. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen, es wurde warm.
„Wird ja doch noch schön“, bemerkte ich, mehr zu mir selbst.
„Ja“, sagte er und setzte sich eine riesige Sonnenbrille auf, die sein Gesicht verdeckte.
Er bot mir seinen Arm an. Ich wunderte mich kurz, dann hakte ich mich ein und wir gingen zum Eingang. Er lächelte, zumindest seine Lippen. Seine Augen konnte ich kaum hinter den dunklen Gläsern erkennen.
Er ließ es sich nicht nehmen, die beiden Eintrittskarten zu kaufen; meinen Protest wischte er müde lächelnd zu Seite.
Wir betraten den Tierpark. Es waren nur wenige Leute unterwegs, er schien dies ebenfalls zu bemerken und entspannte sich.
„Also, wo gehen wir hin?“, fragte er mich.
„Keine Ahnung, irgendwelche Präferenzen?“
„Oh, Fische sind ganz hübsch. Oder das Raubtierhaus.“
„Die Fische gibt’s im Botanischen Garten“, meinte ich und zog ihn hinüber, Richtung Raubtierhaus.
„Dann gehen wir das nächste Mal da hin?“, fragte er.
Erstaunt blieb ich stehen. „Das nächste Mal? So seltsam, wie du dich benimmst, habe ich ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du dich noch einmal mit mir treffen möchtest.“
Er schien ein wenig schockiert zu sein. „Entschuldige bitte, Vera. Es tut mir Leid. Ich bin zur Zeit ein wenig... schräg drauf.“
„Na gut“, meinte ich versöhnlich.
„Vorausgesetzt, du willst dich noch mal mit mir treffen.“
Ich lachte. „Bisher hat es mir immer sehr gut gefallen mit dir.“
„Dann ist ja alles wunderbar“, antwortete er, ebenfalls lächelnd. Endlich. Er lachte wieder.
Wir betraten das Raubtierhaus und er nahm die Sonnenbrille ab. Ich konnte ihm wieder in die Augen sehen.
Ein Schatten lag auf ihnen, der die letzten Male nicht dort gewesen war.
„Ist... wirklich alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich besorgt.
„Ich schlafe zur Zeit... nicht so gut“, sagte er zögernd. Er führte mich zum ersten Gehege.
„Ist der Dreh anstrengend?“
„Ja. Und die Zwillinge, du weißt schon. Die beiden von der Party.“
„Sie sind anstrengend?“
„Sie sind miserable Schauspielerinnen, wirklich, es ist eine Katastrophe. Und sie gehen mir ziemlich auf die Nerven. Jason hier, schau doch mal, Jason da. Ich hätte gerne meine Ruhe. Oder würde meine Zeit gerne mit Menschen verbringen, die ein bisschen mehr im Hirn haben als die beiden zusammen. Sie halten mich ziemlich auf Trapp.“
„Hm“, kommentierte ich.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ach, wie immer. Ich arbeite so vor mich hin.“
„Läuft es gut bei dir?“
„Ja, ziemlich. Ich kann mich nicht beklagen.“
„Das freut mich.“
Er betrachtete den tiefschwarzen Puma hinter der Glasscheibe.
„Warum bist du hier, dieses Wochenende?“
Er zögerte. „Eine Familienangelegenheit. Meine Schwester ist da.“
„Deine Schwester ist auch Schauspielerin? Ich meine, ich kenne sie gar nicht.“
„Liz, also Elizabeth ist eigentlich nur meine Halbschwester. Und sie ist keine Schauspielerin, sie ist Kostümbildnerin. Arbeitet aber auch beim Film.“
„Ach so. Und dein Bruder? Was macht der gerade?“
„Urlaub. Keine Ahnung. Sein Resthirn wegfeiern.“ Er zog die Augenbrauen hoch.
„Auch eine Möglichkeit, seine Zeit zu verbringen.“
„Wohl eher, totzuschlagen“, sagte er, und lächelte finster.
Wir gingen zum nächsten Gehege. Vier große Löwen saßen darin und dösten.
„Deine Platte ist sehr schön“, meinte er beiläufig.
„Du hast sie schon angehört?“, fragte ich erstaunt.
„Ja, das eine oder andere Mal.“ Er lachte. „Ich finde sie wirklich sehr schön.“
„Ich mag Julie London auch sehr gerne. So eine schöne, schwermütige Art zu singen. Passt ganz gut zu deiner Stimmung, heute.“ Ich stieß meinen Ellenbogen sanft in seine Seite.
Er lächelte mich an. „Es ist nur wegen dir.“
„Wegen mir?“ Verblüfft sah ich ihn an.
„Ja. Ich verbringe gerne Zeit mit dir. Und das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, ist fünf Tage her. Fünf Tage nur Menschen um einen herum zu haben, die einem auf den Keks gehen, ist hart, wenn man weiß, dass da draußen noch ein paar andere sind, mit denen man lieber seine Zeit verbringt.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
Wir verließen das Raubtierhaus.
Draußen war es mittlerweile noch sonniger geworden. Er setzte seine dunkle Brille wieder auf.
Wir schlenderten durch den Tierpark, und allmählich besserte sich seine Stimmung. Er wurde lockerer und gelöster.
„Wie hat dir eigentlich meine Party gefallen?“, fragte er schließlich.
„Gut, sehr gut. Mit sehr viel Liebe zum Detail geplant.“
„Das war meine Schwester. Sie kann so etwas gut. Und wie fandest du... die Leute?“
„Gemischt“, sagte ich vorsichtig. „Antonia war sehr nett. Die Zwillinge sind mir eher negativ aufgefallen.“
Er lachte. „Beruhigend, dass das auch andere so sehen.“
„Und ansonsten... Nina war ein wenig seltsam.“ Ich stockte. Eigentlich wollte ich das Thema nicht anschneiden.
„Und Andrew? Wie fandest du Andrew?“
Ich musterte ihn von der Seite. „Weißt du, eigentlich macht man das nicht“, meinte ich schmunzelnd.
„Was?“
„Über andere Menschen reden, so zumindest. Hat dir noch niemand gesagt, dass das unhöflich ist?“, sagte ich neckisch.
Seine Augen blitzten hinter der Sonnenbrille. „Verbotene Dinge sind immer am reizvollsten“, sagte er.
„So, wie Auto fahren ohne Führerschein?“
„Zum Beispiel.“
„Was sagt eigentlich Nina dazu, dass du einen kompletten Nachmittag mit mir verbringst?“ Ich biss mir auf die Zunge, doch die Frage konnte ich mir nicht verkneifen.
„Sie wird bestimmt kochen vor Eifersucht, aber sie wird es überleben. Oder sie schmeißt sich als nächstes an meinen Bruder ran.“
„Das ist ganz schön hinterhältig, das ist dir schon klar?“
„Sie ist auch ziemlich hinterhältig dir gegenüber. Ich kann es nur nicht ausstehen, wenn Leute über mein Leben bestimmten wollen. Und genau das tut sie. Sie meint, sie kennt mich so genau und weiß, was gut für mich ist. Und was ich will.“
„Und da irrt sie?“
„Oft, glaub mir. Sie lässt sich gerne blenden.“
„Das lässt sich jeder gerne. Und es ist auch nicht schwer, von dir geblendet zu sein, das weißt du doch.“
Er grinste. „Ach ja, ich blende die Leute?“
„So was in der Art“, gab ich zu und lachte ein wenig.
„Na dann...“
„Sie meinte zu mir am Telefon, dass ihr sozusagen schon so gut wie zusammen wärt, deswegen frage ich. Ich glaube nicht, dass sie begeistert ist, wenn du die wenige Zeit, die du da bist, nicht mit ihr verbringst.“
„Wir sind nicht zusammen. Weit davon entfernt, weiter denn je.“ Er starrte ins Leere.
„Hast du schon was vor heute Abend? Irgendwelche Pläne?“, fragte Jason plötzlich.
„Äh... nein.“
„Darf ich dich zum Essen einladen?“
Ich schnappte nach Luft. „Eh, klar.“
„Weißt du ein nettes Restaurant in der Nähe?“
„Es ist gerade mal fünf Uhr nachmittags!“, warf ich ein.
„Ja, ich weiß, ich will nur sicher gehen.“
„Ich weiß eines.“
„Gut.“
„Du kannst mich nicht schon wieder einladen! Das letzte Mal ist gerade zwei Wochen her!“, protestierte ich.
„Gut erzogene Männer machen das so. Das ist üblich, in unserer Gesellschaft. Dass die Männer die Frauen einladen. Hat dir noch niemand gesagt, dass es unhöflich ist, sich nicht einladen zu lassen?“ Er grinste mich hinterhältig an, ich atmete zischend aus.
„Möchtest du einen Kaffee?“ Er deutete hinüber zu dem kleinen Teehaus.
„Also...“, begann ich.
„Ich schon.“ Er zog mich leicht am Arm, wir setzten uns an einen Tisch in den Garten davor, in die Sonne.
Es war ruhig und friedlich. Am Spielplatz tobten Kinder, am Nebentisch saßen zwei Frauen und lasen Zeitung.
Wir tranken Kaffee und alberten herum. Ich zog ihn wegen seiner Sonnenbrille auf, die er nicht abnahm, er versprach, mir bei günstiger Gelegenheit mal zu zeigen, was passierte, wenn er es tat. Anschließend drehten wir noch ein paar Runden im Tierpark und amüsierten uns im Steichelzoo.
Eigentlich hatte ich gar nicht hineingehen wollen, doch er zog mich mit.
„Na komm schon, sind doch bloß Tiere“, sagte er lachend.
„Ja, Ziegen. Die beißen und stinken.“
„Quatsch, die sind ganz lieb. Da, kuck mal.“
Er wollte einer kleinen, fetten Ziege über den Kopf streicheln, offensichtlich hatte er sich zu schnell bewegt, denn sie schnappte nach seiner Hand.
Ich konnte mich kaum zusammenreißen und musste lauthals lachen. „Siehst du?“
„Lachst du mich etwa aus?“ Angriffslustig baute er sich vor mir auf. Als ich ihn frech angrinste, sprang er auf mich zu, ich rannte weg. Wir jagten uns durch den Streichelzoo, er war ziemlich lahm. Oder ich schnell. Jedenfalls erwischte er mich nie, ein paar mal fiel er sogar fast hin. Erschrocken sprangen die Ziegen aus dem Weg, wenn er angelaufen kam. Lachend handelten wir schließlich einen Waffenstillstand aus.
Wir verließen den Tierpark und gingen an der Isar spazieren. Der sonnige Himmel war wieder zugezogen, graue Wolken verdeckten nun das fast surreale blau, ab und an brach die Sonne dazwischen durch, dann schienen gleißend helle Strahlen die Luft zu zerschneiden und funkelten im Wasser des Flusses. So glitzerten die Wellen, das trübe Band verwandelte sich in eine silberne Straße, die sich im Grün der Auen verlor.
Wir gingen langsam nebeneinander her, ich hatte mich wieder bei ihm untergehakt. Wir sprachen über meine Arbeit, er interessierte sich sehr dafür. Er erzählte mir von seiner Schwester, er schien sie sehr zu mögen. Seine Eltern jedoch waren ein schwierigeres Thema für ihn. Ich konnte es mir einigermaßen aus dem wenigen zusammenreimen, was er darüber sagte. Sein Vater war schwierig, ehrgeizig und stolz auf das, was er erreicht hatte. Auf seine Söhne war er weniger stolz, ich vermutete, es lag an den vielen negativen Schlagzeilen. Doch Jason und David würden es wahrscheinlich genau darauf anlegen. Manchmal fiel mir auf, wie unglaublich jung er war, und dann schien es teilweise wieder so, als würde der Verstand eines Vierzigjährigen in seinem Körper stecken. Dann wurde er ernst, sprach leiser, sanfter. Ich wusste noch immer nicht, was ich davon halten sollte. Als hätte er verschiedene Persönlichkeiten, zwischen denen er wählen konnte, je nach Thema und Stimmung.
Wir standen auf der Tierparkbrücke, es begann leicht zu nieseln. Er beobachtete die Enten. Ich fragte mich, warum er ausgerechnet in den Tierpark hatte gehen wollen.
„Ich war schon lange nicht mehr dort, und als Kind wäre ich immer gerne hingegangen, aber es hatte niemand für mich Zeit. Und ich dachte, du hättest vielleicht Zeit für mich. Zeit, die man in einem kindischen Tierpark verschwenden kann.“
Erstaunt betrachtete sich sein Gesicht. Seine Züge hatten sich wieder verhärtet.
„Ein Tierparkbesuch ist weder eine Zeitverschwendung, noch kindisch. Es ist vielleicht ein wenig nostalgisch, aber mich zum Beispiel macht es sehr ruhig, Tiere zu beobachten. Was ist daran Zeitverschwendung?“ Fragend sah ich ihn an.
Er lachte trocken. „In meiner Welt, Vera, ist ein Spaziergang in einem Zoo mit jemandem, der einem finanziell nichts bringt, reine Zeitverschwendung. Sonst nichts. Ich meine, ich könnte so viel sinnvollere Dinge gerade tun. In den Augen von manch anderem. Ich könnte ins Fitnessstudio gehen, einen Werbespot drehen, Texte lernen, mich auf Partys herumtreiben und Kontakte knüpfen. Verstehst du?“
„Ja“, meinte ich, „ja, ich verstehe. Ein bisschen. Nicht so ganz. Denn wenn es dich nicht glücklich macht, warum tust du es dann?“
„Es geht nicht um Glück. Es geht um Zufriedenheit. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.“ Er sah hinunter ins Wasser.
„Bist du zufrieden, wenn du unglücklich bist?“
„Glück ist nur ein kurzer Moment. Zufriedenheit ist ein Zustand. Das ist alles.“
„Und wenn man auf ein momentanes Glück verzichtet, kann das förderlich für den Zustand der Zufriedenheit sein? Meinst du das?“
„Ich sehe es nicht ganz so, aber das ist wohl die Ansicht, die viele in meiner Welt teilen.“
Ich war schockiert, auf eine Art, wie ich sie noch nicht gekannt hatte. Ich wollte ihn am liebsten in den Arm nehmen, irgendetwas tröstendes sagen, was ihm helfen würde. Doch gleichzeitig spürte ich, dass es gar nicht getröstet werden wollte.
Eine Weile standen wir da, es wurde langsam dunkel.
„Gehen wir Essen?“, fragte er schließlich.
„Ja, gerne.“ Langsam gingen wir Richtung Innenstadt.
„Also, ich weiß nur, wo das ist, ich war noch nie dort. Aber sie haben in ihrer Küche große Fenster, wie Schaufenster, man kann ihnen bei allem zusehen und direkt in die Küche hineinschauen. Und daher vermute ich... allzu schlimme Sachen werden sie uns nicht auftischen.“
Wieder schmunzelte er.