Das könnte dir passieren

„Und einmal“, sagte sie, „da waren wir im Atomic“ – ich hörte nicht mehr zu. Ellie hatte sich mittlerweile zu tief über ihren Gin Tonic gebeugt, ihr BH war türkis, was daran lag, dass ihr Ausschnitt nicht nur zu groß, sondern auch noch verrutscht war.
Wenn sie wieder mit dieser Story aus dem Atomic anfing, wurde es bald Zeit, zu gehen.
„Und dann kam dieser Typ, also der, der nicht schwul war, und weil, also, im Atomic, da sind ja nur solche Indieschwuchteln, und dann ist er gekommen, und er war schon total betrunken, und dann hat er gesagt…“
Wenn Ellie „total“ sagt, dann ist sie meist selbst ziemlich betrunken. Gleich würde sie uns mitteilen, dass der sympathische junge Mann aus dem Atomic Café mit ihr um drei Uhr morgens in der Münchner Innenstadt auf einen Spielplatz verschwunden war, wo er in einem Gebüsch eine Flasche Tequila, Salz in kleinen Papiertütchen und eine Tupper-Dose mit Zitronenspalten versteckt hatte. Nur würde Ellie für diesen Satz bedeutend länger brauchen. Und vergessen zu erwähnen, dass er ziemlich zugekokst und bald in Tränen ausgebrochen war, weil er seinen silbern glitzernden Hut, der sich mit seiner hellroten, knallengen Hose nicht vertragen hatte, irgendwo auf dem Weg verloren hatte.
Während Ellie immer noch vor sich hin erzählte, bezahlte ich bei der Kellnerin. Andi, welcher die ganze Zeit mit hochgezogenen Augenbrauen und „Ach, wirklich!“ ausrufend neben mir gesessen hatte, verstand meinen Wink und zwang Ellie in ihren viel zu kurzen Mantel, die sich wegen ihrer viel zu hohen Absätze an seinen Arm klammerte, während ich die beiden hinter mir her zur U-Bahn zog.
Die Letzte war natürlich schon gefahren, „in jeder deutschen Großstadt schaffen sie es, nachts U-Bahnen fahren zu lassen, nur hier…“, fing Andi an, ich machte eine Handbewegung in Richtung Bushaltestelle und er setzte Ellie fluchend in Bewegung.
Der Nachtbus war gerade weg, typisch, es wäre auch schade gewesen; dann hätte Ellie die nachts fast ausgestorbene Fußgängerzone, unter der Woche wenigstens, nicht mitbekommen.
„Und diese unglaubliche Party an der Isar, letzten Sommer, weißt du noch, Laura?“
„Hm“, machte ich, ich begann zu frösteln, der Heimweg würde länger dauern mit Ellie. Ich stapfte los, durch den Schnee, fast zehn Zentimeter waren gefallen, seit wir die Bar am Stachus betreten und dieser unselige Abend begonnen hatte.
Zehn weiße Zentimeter, die den Schlamm des Tages zudeckten und die Fußgängerzone in eine friedliche, malerisch anmutende Kleinstadt verwandelten. Keine Spur mehr vom hektischen Treiben und den zahllosen Touristen, die durch ihr beständiges Warten vor dem Rathaus den ansonsten geölten Tagesablauf der Münchner in einen zähen Fluss verwandelten, da man für den Weg vom Hugendubel zum Galeria Kaufhof sowohl an der Oberfläche als auch im Untergrund gefühlte siebeneinhalb Minuten brauchte.
Jetzt brauchten wir vier, Dank Ellie, die Andi zum Slalom zwang, alleine hätte ich nicht mal eine gebraucht.
„Und warst du schon mal im Englischen Garten? Da haben wir uns abends mal getroffen, der ist ja total groß, weißt du, und die Pferde da…“ Ellie brabbelte vor sich hin, sie hatte wohl vergessen, dass Andi bei den meisten Erlebnissen, über die sie so gerne berichtete, dabei gewesen war. Auch er hatte schon längst mitbekommen, wie überwältigt sie von ihren Eindrücken war, jedes Mal aufs Neue.
Sie studierte jetzt schon fast vier Monate hier, hatte mich im Sommer oft besucht und kannte sich mittlerweile natürlich besser aus als jeder Münchner; Andi war hier geboren und aufgewachsen, genauso wie ich, das schien ihr manchmal zu entfallen.
Ellie hatte uns vor ein paar Wochen vorgeworfen, dass wir arrogant seien, dass wir glaubten, aus dem tollsten Eck der Welt überhaupt zu stammen.
Ich musste damals an den Sommer denken, die Menschen in den Cafés, so schick, mit ihren Sonnenbrillen, wie sie Latte Macchiato schlürften, nein, eigentlich nippten sie ja am Strohhalm; wie sie dann in ihre Cabrios stiegen, die Leopold entlang fuhren und ihr Gefährt mit viel Aufsehen vor den Eingängen des Englischen Gartens verließen, um am Eisbach entlang zu flanieren.
Ich mochte sie nicht, und das nicht nur, weil sie Kaffee aus einem Glas tranken, sondern auch, weil sie es hier genauso schön fanden, wie ich.
Und jeden Frühling kamen mehr von ihnen, aus welchen Löchern sie krochen, war mir unerklärlich, die ganzen glücklichen Singles mit ihren Sonnenbrillen und Latte Macchiatos. Ich bin kein glücklicher Single, ich bin ein glückliches Pärchen, meistens wenigstens, wenn der Herzallerliebste nicht zu tief in Ellies Ausschnitt schaut.
Mit Ellie läuft hier eine schöne Münchnerin mehr herum, wenn auch keine echte. Doch sie benahm sich schon fast wie eine Richtige, sie betrank sich in viel zu teuren Bars mit unverschämt netten Menschen, um dann mit viel zu hohen Schuhen einen viel zu langen Weg durch die Stadt zu ihrer Studenten-WG zu stöckeln, auch durch Schnee.
Die Figuren am Fischbrunnen waren unter einer dicken Eisschicht verborgen, sie sahen wie eingefrorene Engel aus, das spärliche Licht der Laternen brach sich in ihnen, der Schnee am Brunnen glitzerte. Wir liefen weiter, es wurde windig. Am Odeonsplatz kamen uns drei Jungs entgegen, sie suchten Ansprache und einen „richtig coolen Club“.
„Da gibt es das Atomic“, fing Ellie an, ich fiel ihr ins Wort und sagte: „Vergesst es, geht immer gerade aus zum Sendlinger Tor, da sind noch ein paar andere Clubs, die Erste Liga zum Beispiel.“ Als sie uns nicht nur überreden wollten, mitzukommen, sondern auch noch aufdringlich wurden, herrschte Andi sie an, sie sollten verschwinden.
Die Theatinerkirche strahlte orangegolden, „boah“, sagte Ellie, sie war gestolpert.
Vor uns lag die Leopoldstraße, endlos schön, das Siegestor ein glänzender Punkt in der Ferne.
„Nimm du auch mal“, meinte Andi und übergab mir Ellie, seine Hände waren eiskalt und er schwitzte.
„Laura, weißt du“, begann Ellie, „ja, ich weiß“, antwortete ich.
„Nein, weißt du nicht, du weißt ja gar nicht, was ich sagen will.“
„Doch“, murmelte ich gedankenverloren.
Sie blieb plötzlich stehen und fasste mich fest am Arm. „Wieso seid ihr Münchner eigentlich so maßlos arrogant?“ Ihre Augen blitzen und sie schniefte laut.
„Weil wir die Schönheit dieser Stadt auch dann sehen, wenn alle anderen sie nicht sehen. Du erzählst, was du hier alles Tolles erlebt hast und vergisst, dass die Stadt auch ohne dich ganz gut leben kann, und genau das ist der Punkt. Weil du das alles hier nicht richtig siehst.“ Ellie brach in Tränen aus.
„Jetzt ist es aber mal gut“, griff Andi ein.
Er hatte eine Engelsgeduld, er mochte neben Cocktails sogar das Hofbräuhaus, er war ein Traummann.
„In München zählt doch nur Schönheit und Reichtum!“, rief sie.
„Das siehst du also“, gab ich bissig zurück. Sie war schön und sie war auch ein wenig reich, ich verstand ihre Aufregung nicht.
Da musste ich an den Frühling denken, an die träge glitzernde Isar, die gar nicht träge war, an die zarten grünen Blattspitzen an den Bäumen, an die Wasserpfützen, die unsere kleine Welt spiegelten, ganz gleich ob mit Schönheit und Reichtum oder ohne. Die großen bunten Schmetterlinge fielen mir ein, die jeden Frühling durch den botanischen Garten flatterten. Bald war es wieder so weit.
Zufrieden konnte man da werden, das konnte gut passieren, nicht nur dort oder an der Isar. Überall.
Gemeinsam zogen wir Ellie die Straße entlang nach Hause zu uns, bis auf das Sofa.
Auf der Treppe wäre sie fast eingeschlafen, mit ihren blonden Haaren um ihr Gesicht sah sie aus wie ein Engel.
Morgen früh würde sie Kopfschmerzen haben, das machte nichts, wir würden spazieren gehen, ein wenig frische Luft schnappen, vielleicht einen Kaffee trinken.
Möglicherweise würde Ellie dann bald zufrieden werden, denn einmal trifft es jeden.

Caroline Schleibinger, 28. Februar 2010


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