Afrikas Freiheit

Sie hatte ihre Sachen gepackt und ihr Konto aufgelöst.
Das Baby lag in einer Tragetasche neben ihr auf dem Sitz.
Hinter einer großen Sonnenbrille versteckt, saß sie in der Maschine nach Johannesburg, dort hatte eine Bekannte ihr eine Wohnung besorgt. Sie hatte die Wohnung bisher nur auf Bildern gesehen, doch sie gefiel ihr. Natürlich war das kein Vergleich zu dem Haus, in dem sie vorher gelebt hatte. Doch in der Wohnung würde sie alleine leben, ohne kontrolliert zu werden. Für das Baby gab es zwar kein eigenes Zimmer, doch für den Anfang würde es reichen. Sie würde zusammen mit dem Baby in einem Raum schlafen, es in der Nacht atmen hören, etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte. Ihr Mann hatte nicht gewollt, dass das Baby im Schlafzimmer schlief, denn er wollte von dem Geschrei in der Nacht nicht geweckt werden. Am Anfang hatte das Hausmädchen sie noch geweckt, wenn das Baby nachts geschrien hatte, doch auch davon hatte sich ihr Mann gestört gefühlt, und so hatte sich das Hausmädchen mehr und mehr alleine um das Kind gekümmert.
Das würde sich nun ändern. Sie würde sich ausschließlich um das Baby kümmern, all ihre Zeit für das Kind aufopfern.
Ein wenig Wehmut kam in ihr auf, als sie an den Garten dachte, die Terrasse, den Teich, den Pool. Doch ihre Wohnung hatte eine großzügige Dachterrasse, und diese war ihre eigene, sie gehörte ihr ganz allein. Ihr und dem Kind. Sie hatte nur ihrer engsten Freundin von ihrer Flucht erzählt, die sie dabei unterstützt hatte. Nicht einmal das Hausmädchen wusste Bescheid, sie hatte ihre Koffer in den letzten Tagen alleine heimlich gepackt und hatte das Haus verlassen, als das Mädchen zum Einkaufen gegangen war. Wahrscheinlich würde sie erst in ein paar Stunden vermisst werden.
Sie freute sich auf ihr neues Leben, auf ein freies, selbstbestimmtes Leben.
Eine Stewardess trat neben ihren Sitz und fragte sie, ob sie einen Wunsch hätte.
Einen Augenblick lang verspürte sie den Drang, zu feiern, mit einem Glas Sekt auf ihr zukünftiges, neues Leben anzustoßen. Doch sie verwarf den Gedanken wieder, Alkohol sollte in ihrem neuen Leben nicht vorkommen.
Sie sah aus dem Fenster, die Sonne strahlte. Ihr Blick fiel auf ihre Hände. Der Ehering mit dem kleinen Brillanten blitzte an ihrem Ringfinger.
Sie nahm ihn ab und ließ ihn in die Ritze zwischen den Sitzen fallen.
Dieses Flugzeug würde sie in die Freiheit bringen, in ihr neues, glückliches Leben, weg aus Deutschland, aus ihrer Ehe, aus dem riesigen und doch beengendem Haus.
Das Kind, ihr Kind, würde in einem ruhigen und friedlichen Haus aufwachsen, ohne Streit und Geschrei.
Sie würde in Johannesburg endlich ihr lang ersehntes Glück finden, sie würde frei sein.

„Die Maschine von München nach Johannesburg stürzte heute Morgen aus bisher ungeklärten Ursachen ab. Alle 210 Passagiere kamen dabei ums Leben, unter ihnen 143 Deutsche. Der Kontakt zum Piloten war plötzlich abgebrochen, als das Flugzeug...“
Der Mann schaltete das Autoradio ab und hupte, weil der Fahrer vor ihm nicht gleich los fuhr, als die Ampel auf grün umschaltete.
„Selber schuld“, murmelte er, „was fliegen sie auch nach Afrika.“

Caroline Schleibinger, 5. Juli 2008


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