Nachtsichten
Neulich nachts, in der Münchner Innenstadt. Frustrierte Frauen, undurchsichtiger Mann. Gesprächsthema: Frauen und Männer, und dass Frauen die Männer nicht verstehen und Männer die Frauen nicht. Wie immer eben. Es tut sich auch in dieser großen Stadt nichts Neues.
Es kamen auch keine neuen Erkenntnisse Zustande. Und tatsächlich blieb alles beim Alten, aber nicht mehr so, wie es war.
Wenn sie nur alle einmal reden würden, wenn man einmal unsere von Subtext und Metaebenen zerfressene Kommunikation begraben und sein Herz auf den Tisch knallen würde, wenn man frei und ungezwungen reden könnte, ja dann, vielleicht würden wir uns dann einmal verstehen.
Ein jeder Körper hält ein sorgfältig gepflegtes, schwarzes Loch in sich, das ihm einmal durch die Brust geschlagen wurde. Man hegt es, und man hält es fern von der Welt da draußen.
Wäre es ein Kind, man würde es hinauswerfen und die Tür zuschlagen, ja sogar versperren, man würde sagen, Kind, lauf hinaus in die Welt, lass dich ordentlich verletzten, lerne, dich selbst wieder zu ertragen, und dann komm zurück. Und dann werde vielleicht einmal glücklich. Denn wir stehen unserem eigenen Glück im Wege, wir weinen und schreien und rennen davon, wir schreien davon, und kommen nicht weiter.
Man sollte sich das Loch aus seiner Brust reißen, man sollte es in einer Bar mitten auf die Tanzfläche knallen und rufen: Nun, was haltet ihr davon? Was sagt ihr dazu?
Die anderen würden verwundert schauen, die Schultern heben, die Augenbrauen, die Stirn runzeln. Wenn sie darüber nachdächten, würden sie in Tränen ausbrechen und den Himmel und Gott anflehen, noch einen, nur noch einen zu schicken, der es wieder täte. Denn nach dem ersten Schock würden sie verstehen, sie würden auf die Knie fallen und es nicht fassen können, dass jemand zu ihnen spricht, den sie doch in sich so sehr suchen und niemals verstehen können, solange sie da suchen, wo sie nichts finden werden.
Doch während man noch so denkt, ist es schon zu spät. Wenn sich tatsächlich einmal einer gefunden hat, der sein Loch in der Brust den anderen hinwirft, dann ist der Schock so groß, dass er erst einmal nicht überwunden wird. Man steht im Kreis herum, man staunt, man erschrickt stumm und sieht mit großen Augen in die Welt, von der ein grauer Schleier aus Metaebenen und Subtext gerissen wurde.
Man würde sich ansehen und fragen: Was willst du eigentlich? Und man würde hoffen, dass der andere antwortet, auf die gleiche Weise. Man würde für immer hoffen.
Und warum können wir es immer wieder nicht lassen, und, viel schlimmer, nicht fassen? Warum kannst du mir nicht sagen, was du willst? Warum schweige ich erstarrt, unfähig, zu artikulieren, was mein Kopf doch schon längst für mich gedacht hat und dir entgegen schreien will?
Ja, schrei mich an, von mir aus, sag es mir, sag es mir, was dein Herz so schwer macht. Ich sehe es doch, wir alle sehen es, wir spüren die Löcher, die Abgründe, wir fühlen sie, doch niemand macht seinen Mund, auf, sodass man ihn verstehen könnte.
Nun, eine Antwort wäre gut.
Caroline Schleibinger, 8. Mai 2011, 5 Uhr morgens